Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsätzliche Täuschung über Zahlungsfähigkeit des Arbeitgebers bei Vergleichsschluss. Kein Wegfall der Geschäftsgrundlage bei späterer Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Aufhebungsvertrag und Beendigungsvergleich als Risikogeschäfte
Leitsatz (amtlich)
Arbeitnehmer*innen tragen bei gerichtlichen Abfindungsvergleichen zur Beendigung des Rechtsstreits und des Arbeitsverhältnisses typischerweise das Risiko der späteren Zahlungsunfähigkeit der Arbeitgeber*in. Sie können sich deshalb bei nachträglich eintretender Zahlungsunfähigkeit nicht auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 Abs. 1 BGB) berufen.
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Anfechtungsgrund wegen arglistiger Täuschung kann vorliegen, wenn der Prozessbevollmächtigte bewusst oder billigend in Kauf genommen hat, dass der Arbeitgeber zahlungsunfähig sein könnte und durch Verschweigen dieses Umstandes der Kläger zu einer Zustimmung zum Vergleich gebracht wurde. Die Beweislast und auch die Darlegungslast für das Vorliegen von Arglist in diesem Sinne trägt aber der anfechtende Kläger.
2. Sowohl ein Aufhebungsvertrag als auch ein Beendigungsvergleich sind sogenannte Risikogeschäfte, weil hierbei die Arbeitnehmer immer in Vorleistung gehen. Ihnen obliegt das allgemeine, typisch von ihnen zu tragendes Risiko des späteren Eintritts der Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers. Sie können sich daher nicht auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen.
Normenkette
BGB § 123 Abs. 1-2, § 166 Abs. 2, § 313 Abs. 1-2, § 323 Abs. 1, § 326 Abs. 5
Verfahrensgang
ArbG Gera (Entscheidung vom 14.04.2021; Aktenzeichen 1 Ca 229/20) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gera vom 14.4.2021 - 1 Ca 229/20 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Fortsetzung eines Kündigungsrechtsstreits vor dem Hintergrund, dass sie den im Gütetermin vor dem Arbeitsgericht am 25.05.2020 abgeschlossenen Vergleich für nichtig/unwirksam hält.
Die am 12.05.1982 geborene Klägerin war ledig und gegenüber drei Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Seit dem 01.07.2016 war sie als Mitarbeiterin Verwaltung aufgrund des Vertrages vom selben Tage bei der ... (fortan kurz: Schuldnerin) beschäftigt. Wegen der Einzelheiten des Vertrages wird auf die zu den Akten gereichte Kopie hiervon (Bl. 4 bis 6 d. A.) Bezug genommen. Ihre Vergütung betrug zuletzt 2.900,00 € brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden.
Nach 2 Abmahnungen vom 29.01., wegen deren Inhalt es im Einzelnen auf die zu den Akten gereichten Kopien hiervon (Bl. 18 - 21 d. A.) Bezug genommen wird, kündigte die Schuldnerin der Klägerin mit Schreiben vom 27.02.2020, zugegangen der Klägerin am 28.02.2020, ordentlich mit Wirkung zum 31.03.2020.
Hiergegen richtet sich die der Schuldnerin am 10.03.2020 zugestellte Klage.
Im Gütetermin vom 25.05.2020 schlossen die Parteien einen Vergleich folgenden Inhalts:
"1. Es besteht Einigkeit, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien aufgrund arbeitgeberseitiger ordentlicher betriebsbedingter Kündigung vom 27.02.2020 mit Ablauf des 31.03.2020 beendet worden ist.
2. Für den Verlust des Arbeitsplatzes zahlt die Beklagte an die Klägerin eine Abfindung nach §§ 9, 10 KSchG in Höhe von 9.500,00 € brutto.
3. Die Beklagte erteilt der Klägerin unter dem 31.03.2020 ein wohlwollend und berufsfördend formuliertes qualifiziertes Arbeitszeugnis, das in der Leistungsbeurteilung "gut" ausfällt und in der Verhaltensbeurteilung mit "stets einwandfrei".
4. Mit Erfüllung dieses Vergleiches sind alle wechselseitigen finanziellen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und dessen Beendigung, gleich welchen Rechtsgrundes, ob bekannt oder unbekannt, erledigt. Die Parteien sind insbesondere darüber einig, dass der Urlaubsanspruch der Klägerin in Natur gewährt und genommen worden ist.
5. Damit ist der Rechtsstreit erledigt.
6. Der Beklagten bleibt vorbehalten, diesen Vergleich schriftlich bis spätestens zum 02.06.2020, eingehend bei Gericht, zu widerrufen."
Am 03.06.2020 hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Arbeitsgerichts die Rechtswirksamkeit des Vergleiches festgestellt, weil kein Widerruf erfolgt sei.
Im ersten Quartal 2020 blieben der Schuldnerin geschuldete Zahlungen aus. Stattdessen gaben die Zahlungsverpflichteten eine Zusage über die Ausstattung der Schuldnerin mit Investitionsmitteln in Höhe von 1 Million €. Diese Zusage wurde am 09.06.2020 zurückgezogen. Dadurch sah die Schuldnerin die Zahlungsunfähigkeit als eingetreten an. Am 22.06.2020 beantragte die Schuldnerin die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dieser Antrag ging ursprünglich beim Amtsgericht Frankfurt/Main ein und wurde von dort an das Amtsgerichts Gera verwiesen, wo es am 02.07.2020 einging. Mit Vollstreckungsandrohung vom 23.06.2020 forderte die Klägerin über ihre Prozessbevollmächtigten die Schuldnerin zur Zahlung bis 26.06.2020 auf. Mit dem Beschluss vom 08.07.2...