Entscheidungsstichwort (Thema)
Parallelentscheidung zu LAG Thüringen 1 Sa 273/21 v. 17.01.2023
Leitsatz (amtlich)
1. Große dynamische Bezugnahmeklauseln, die auch als Tarifwechselklauseln bezeichnet werden, sind im Arbeitsleben als Gestaltungsinstrument so weit verbreitet, dass ihre Aufnahme in Formulararbeitsverträge nicht überraschend ist (§ 305c Abs. 1 BGB). Große dynamische Bezugnahmeklauseln verstoßen weder gegen das Transparenzgebot in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB noch gegen die Vorgaben aus § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 15 Nachweisgesetz. Vielmehr reicht die Bestimmbarkeit der anwendbaren Regelungen im Zeitpunkt ihrer Anwendung.
2. Es ist durch Auslegung zu ermitteln, ob eine Besitzstandsklausel in einem Tarifvertrag lediglich deklaratorisch die gesetzliche Lage wiedergibt (§ 4 Abs. 3 TVG) oder etwa die vollständige Ablösung eines vormaligen Tarifvertrags zu beschränken sucht.
3. Durch die Aufnahme des Stichtags "vor oder bei Vertragsabschluss" in § 22 des zwischen dem Landesverband Thüringen des Verkehrsgewerbes e. V. und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Landesbezirk Thüringen, geschlossenen Manteltarifvertrags vom 12.07.2017 sowie in § 7 des zwischen den gleichen Tarifvertragsparteien geschlossenen Entgelttarifvertrags Logistikunternehmen vom 22.08.2019 erfassen die dortigen Besitzstandsklauseln Sachverhalte nicht, in denen diese Tarifverträge erst nachträglich aufgrund eines arbeitgeberseitigen Verbandswechsels kraft einzelvertraglicher Tarifwechselklausel im Arbeitsverhältnis Geltung erlangen.
Normenkette
TVG § 4 Abs. 3, 5; BGB § 305c Abs. 1, § 307 Abs. 1 S. 2; NachwG § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 15; MTV Verkehrsgewerbe Thüringen v. 12.07.2017 §§ 5, 12, 22; ETV Logistikunternehmen v. 22.08.2019 § 7
Verfahrensgang
ArbG Gera (Entscheidung vom 04.11.2021; Aktenzeichen 5 Ca 103/21) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gera vom 04.11.2021 - Az. 5 Ca 103/21 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um den Umfang der geschuldeten wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Höhe der Bruttovergütung nach einem Tarifwechsel auf Arbeitgeberseite.
Der Kläger ist seit dem 01.06.2013 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Lagerarbeiter beschäftigt.
Der Arbeitsvertrag der Parteien vom 06.05.2015 (Bl. 16 bis 19 der Akte) hat auszugsweise den nachfolgenden Inhalt:
"2. Arbeitszeit, Mehrarbeit und Überstunden
(1) Durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit:
Vollzeit und richtet sich nach dem jeweils geltenden Tarifvertrag.
...
3. Deklaratorische Eingruppierung, Vergütung
(1) In Folge seiner Tätigkeit als Lagerarbeiter/-in wird der Arbeitnehmer in die Tarifgruppe L3 eingruppiert.
Tarifentgelt 2.034,54 €.
...
13. Bezugnahmeklausel
(1) Die für den Arbeitgeber während seiner Tarifbindung gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern jeweils unmittelbar und zwingend geltenden Tarifverträge finden in ihrer jeweiligen Fassung auch auf die Arbeitnehmer Anwendung, die nicht Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sind.
(2) Es kann zu einer Ablösung durch andere Tarifverträge kommen, dabei ist sowohl ein Wechsel zu einer anderen Branche als auch zu einer anderen Gewerkschaft möglich. Hiermit ist eine Gleichstellung tarifgebundener und tarifungebundener Arbeitnehmer bezweckt.
(3) Tritt der Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband aus oder findet ein Betriebsübergang auf einen tarifungebundenen Arbeitgeber statt, findet der Tarifvertrag in der zum Austritts-/Betriebsübergangszeitpunkt geltenden Fassung Anwendung, soweit er durch keine andere Abmachung ersetzt wird.
..."
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Logistikbranche und gehört der A...-Gruppe an. Sie betreibt am Standort B... ein Logistikzentrum und war in der Vergangenheit ausschließlich für zwei Konzernschwestergesellschaften tätig. Bis ins Jahr 2020 galt für die Beklagte ein Sicherungstarifvertrag, geschlossen zwischen der Unternehmervereinigung für Arbeitsbedingungen im Handel und Dienstleistungsgewerbe e.V. (AHD), deren Mitglied die Beklagte war, und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Nach § 5 Ziffer 1 Satz 1 dieses Sicherungstarifvertrages betrug die wöchentliche Arbeitszeit ausschließlich der Ruhepausen 38,5 Stunden. Des Weiteren nahm der Sicherungstarifvertrag Bezug auf die zwischen dem Landesverband für Groß- und Außenhandel und Dienstleistungen Thüringen e.V. (LGAD) sowie dem Landesverband Ost der gewerblichen Verbundgruppen e. V. einerseits und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Fachbereich Handel, Landesbezirk Thüringen, andererseits abgeschlossenen Mantel- und Entgelttarifverträge in ihrer jeweiligen Fassung.
Das Tarifentgelt des Klägers betrug in Anwendung dieses Sicherungstarifvertrags nach den übereinstimmenden Angaben der Parteien zuletzt 2.339,00 € brutto bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden. Der Kläger ist nicht Mitglied von ver.di.
Mit Wirkung zum 30.09.2020 kündigte die AHD den...