Entscheidungsstichwort (Thema)
Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag als Allgemeine Geschäftsbedingung. Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen. Große dynamische Bezugnahmeklausel. Verständnis der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel. Inhaltskontrolle einer dynamischen Bezugnahmeklausel
Leitsatz (redaktionell)
1. Handelt es sich bei dem Arbeitsvertrag bereits nach dem äußeren Erscheinungsbild um ein vervielfältigtes Vertragswerk des Arbeitgebers und sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass einzelne Klauseln des Arbeitsvertrags individuell ausgehandelt worden wären, liegen Allgemeine Geschäftsbedingungen vor.
2. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zu Grunde zu legen sind.
3. Eine sogenannte große dynamische Bezugnahmeklausel, die auch als Tarifwechselklausel bezeichnet wird, ist sowohl zeitdynamisch als auch hinsichtlich der anzuwendenden Tarifverträge inhaltsdynamisch ausgestaltet. Sie erfasst nicht nur die Tarifverträge einer bestimmten Branche oder bestimmter Tarifvertragsparteien in ihrer jeweiligen Fassung, sondern auch andere Tarifverträge, an die der Arbeitgeber (zukünftig) gebunden sein wird.
4. Sollen nach der Bezugnahmeklausel die "jeweils für das Unternehmen gültigen Tarifverträge" gelten, wird gerade nicht das Tarifwerk einer bestimmten Branche in Bezug genommen, sondern soll ersichtlich jeweils das Tarifwerk im Arbeitsverhältnis zur Anwendung kommen, welches für das Unternehmen "gültig" ist.
5. Die Bezugnahmeklausel ist keine überraschende Klausel im Sinn des § 305c Abs. 1 BGB. Dynamische Verweisungen auf einschlägige Tarifverträge sind im Arbeitsleben als Gestaltungsinstrument so verbreitet, dass ihre Aufnahme in Formularverträgen nicht überraschend ist. Die Klausel verstößt auch nicht gegen das Transparenzgebot in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, denn die Verweisung auf Vorschriften eines anderen Regelungswerks führt für sich genommen nicht zur Intransparenz.
Normenkette
TVG § 4 Abs. 3; BGB § 307 Abs. 1 S. 2, § 305c Abs. 1; NachwG § 2 Abs. 1 Nr. 15; MTV Verkehrsgewerbe Thüringen v. 12.07.2017 §§ 5, 12, 22; ETV Logistikunternehmen Thüringen v. 22.08.2019 § 7
Verfahrensgang
ArbG Gera (Entscheidung vom 04.11.2021; Aktenzeichen 5 Ca 117/21) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gera vom 04.11.2021 - Az. 5 Ca 117/21 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um den Umfang der geschuldeten wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Höhe der Bruttovergütung nach einem Tarifwechsel auf Arbeitgeberseite.
Der Kläger ist seit dem 08.05.1998 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Lagerarbeiter beschäftigt.
Der aktuelle Arbeitsvertrag der Parteien vom 02.01.2002 (Bl. 9 der Akte) hat auszugsweise den nachfolgenden Inhalt:
"2. Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit beträgt 39,0 Stunden, das entspricht einer durchschnittlichen monatlichen Arbeitszeit von 169,0 Stunden.
3. Die Vergütung für die unter 2. genannte Arbeitszeit setzt sich wie folgt zusammen:
Tariflohn/-gehalt nach Stufe L4 € 1.632,04 Euro."
Ferner ist nach den Feststellungen in der Berufungsverhandlung auf der nicht zur Akte gelangten Seite 2 des Arbeitsvertrages in Ziffer 9 folgendes geregelt:
"9. Im übrigen gelten die Bestimmungen des jeweils für das Unternehmen gültigen Tarifvertrages."
Die Festlegungen zur wöchentlichen Arbeitszeit und zum Tarifentgelt entsprachen den seinerzeit einschlägigen tariflichen Regelungen.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Logistikbranche und gehört der A...-Gruppe an. Sie betreibt am Standort B... ein Logistikzentrum und war in der Vergangenheit ausschließlich für zwei Konzernschwestergesellschaften tätig. Bis ins Jahr 2020 galt für die Beklagte ein Sicherungstarifvertrag, geschlossen zwischen der Unternehmervereinigung für Arbeitsbedingungen im Handel und Dienstleistungsgewerbe e.V. (AHD), deren Mitglied die Beklagte war, und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Nach § 5 Ziffer 1 Satz 1 dieses Sicherungstarifvertrages betrug die wöchentliche Arbeitszeit ausschließlich der Ruhepausen 38,5 Stunden. Des Weiteren nahm der Sicherungstarifvertrag Bezug auf die zwischen dem Landesverband für Groß- und Außenhandel und Dienstleistungen Thüringen e.V. (LGAD) sowie dem Landesverband Ost der gewerblichen Verbundgruppen e. V. einerseits und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Fachbereich Handel, Landesbezirk Thüringen, andererseits abgeschlossenen Mantel- und Entgelttarifverträge in ihrer jeweiligen Fassung.
Das Tarifentgelt des Klägers betrug in Anwendung dieses Sicherungstarifvertrags nach den übereinstimmenden Angaben der Parteien zuletzt ...