Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Rechtsschutzbedürfnis. Folgenabwägung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Vorrang der Beantragung vorläufiger Leistungen. gewöhnlicher Aufenthalt. Leistungsausschluss für Unionsbürger bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Europarechtskonformität
Leitsatz (amtlich)
1. Einstweiliger Rechtsschutz nach § 86b SGG wegen Grundsicherungsleistungen nach dem SGB 2 kann mangels Rechtsschutzbedürfnis abzulehnen sein, wenn der Antragsteller vorrangig gegenüber dem Jobcenter vorläufige Leistungen § 40 Abs 2 Nr 1 SGB 2 iVm § 328 SGB 3 erwirken kann. Nicht - mehr - verlangt werden darf das, wenn spätestens im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung das Jobcenter zweifelsfrei zu verstehen gibt, zu vorläufigen Leistungen ohne gerichtliche Verpflichtung nicht bereit zu sein.
2. Für eine dem gewöhnlichen Aufenthalt gem § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 2 entgegenstehende absehbare Beendigung des Aufenthalts (vgl BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R = BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34) liegen keine Anhaltspunkte vor, solange die Ausländerbehörde gegenüber einem Unionsbürger noch nicht einmal das Prüfverfahren nach § 5 Abs 3 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) eingeleitet hat.
3. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 greift einfachrechtlich nur, wenn dem Unionsbürger ausschließlich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche gem § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU zusteht. Das ist eigenständig im Bewilligungsverfahren nach dem SGB 2 zumindest solange fiktiv zu prüfen, bis die Ausländerbehörde eine Entscheidung im Überprüfungsverfahren nach § 5 Abs 3 FreizügG/EU getroffen hat (vgl BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R = ZFSH/SGB 2014, 158). Ein Unionsbürger ohne Aufenthaltsrecht gem § 2 Abs 2 FreizügG/EU ist vom Leistungsausschluss nicht erfasst (Anschluss an LSG Essen vom 10.10.2013 - L 19 AS 129/13 = ZFSH/SGB 2014, 167; LSG Darmstadt vom 27.11.2013 - L 6 AS 378/12; anderer Ansicht vgl LSG Celle vom 26.3.2014 - L 15 AS 16/14 B ER).
4. Das einen gewissen Zeitraum tatsächlich ausgeübte Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche kann eine hinreichende Verbindung des Unionsbürgers zum nationalen Arbeitsmarkt begründen, um Leistungen erhalten zu können, welche der Erleichterung des Zugangs zum nationalen Arbeitsmarkt dienen (vgl EuGH vom 4.6.2009 - C-22/08 ua = Slg 2009, I-4585, - Vatsouras, juris Rn 39; EuGH vom 23.3.2004 - C-138/02 = Slg 2004, I-2703, Collins, juris Rn 70).
5. Einstweiliger Rechtsschutz kommt im Rahmen einer gebotenen Folgenabwägung in Betracht, wenn europarechtlich unter Berücksichtigung der bisher veröffentlichten Rechtsprechung des EuGH zweifelhaft ist, ob im Einzelfall der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 europarechtskonform bestehen kann.
6. Der Geltungsvorrang des Europarechts ist bereits vor einer Vorabentscheidung des EuGH über ein anhängiges Ersuchen nach Art 267 AEUV im nationalen einstweiligen Rechtsschutz zu berücksichtigen (vgl EuGH vom 19.6.1990 - C-213/89 = NJW 1991, 2271, juris Rn 18 ff; anderer Ansicht vgl LSG Celle vom 26.3.2014 - L 15 AS 16/14 B ER).
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 4. März 2014 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Antragsgegner zur vorläufigen Leistung bis zu einer Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, längstens bis zum 31. Mai 2014 verpflichtet ist.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch die Kosten der Beschwerde zu erstatten.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter anwaltlicher Beiordnung wird abgelehnt.
Gründe
Die am 6. März 2014 bei dem Thüringer Landessozialgericht eingelegte Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha (SG) vom 4. März 2014, mit dem er vorläufig verpflichtet ist,
der Antragstellerin Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 25. Februar 2014 bis 31. Mai 2014 zu zahlen,
hat in der Sache keinen Erfolg.
Das SG hat im Ergebnis zu Recht die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu der in der Hauptsache bei dem SG spätestens am 25. Februar 2014 erhobenen Klage S 29 AS 980/14 bejaht.
Allerdings ist der Tenor des Beschlusses des SG gemäß §§ 142 Abs. 1, 138 SGG zu berichtigen, weil aus seinem Wortlaut nicht eindeutig zum Ausdruck kommt, dass die einstweilige Anordnung zeitlich nur gelten soll, solange der Rechtsstreit in der Hauptsache nicht erledigt ist, längstens bis zum 31. Mai 2014 (vgl. zur Berichtigungsbefugnis im Rechtsmittelverfahren: Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 10. Aufl., § 138 Rn. 4 m.w.N.).
Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass die Antragstellerin bisher nicht vorläufige Leistungen bei dem Antragsgegner beantragt hat. Zwar kann ein Rechtsschutzbedürfnis zu verneinen sein, wenn die Möglichkeit besteht, bei dem Leistungsträger vorläufige Leistungen zu erwirken, was vorliegend nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III - vorläufige Bewilligung wegen Vorlage bei dem EuGH zu entscheidungserheblicher Rechtsfrage - in Be...