Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verschuldenskosten nach § 192 Abs 4 SGG. unterlassene Ermittlungen. Zurechnung von Versäumnissen der Widerspruchsbehörde. Ermessensentscheidung. Prüfungsumfang. Prüfung nur bzgl des Verwaltungsverfahrens. Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen. regelmäßige Auferlegung der verursachten Kosten. Ausnahmefall
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Frage der unterlassenen Ermittlungen (§ 192 Abs 4 SGG) muss sich die beklagte Behörde Versäumnisse der Widerspruchsbehörde zurechnen lassen.
2. Die Entscheidung nach § 192 Abs 4 SGG ist im Beschwerdeverfahren nicht nur auf Ermessensfehler, sondern in vollem Umfang zu überprüfen. Der Gegenstand der Entscheidung fällt in entsprechender Anwendung von § 157 SGG in vollem Umfang beim Beschwerdegericht an.
3. Weil § 192 Abs 4 SGG an im Verwaltungsverfahren unterlassene Ermittlungen anknüpft, darf die Frage weiterer behördlicher Untersuchungen im Gerichtsverfahren nicht in die Ermessensentscheidung einfließen. Gleiches gilt für das prozessuale Verhalten im Hinblick auf eine mögliche unstreitige Erledigung des Gerichtsverfahrens. Denn § 192 Abs 4 SGG soll nicht zur Förderung dieses Zieles dienen, sondern die Behörden zu sorgfältigen Ermittlungen im Verwaltungsverfahren anhalten.
4. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 192 Abs 4 SGG vor, stellt es regelmäßig eine fehlerfreie Ermessensentscheidung dar, die verursachten Kosten der Behörde aufzuerlegen. Etwas anderes kann sich aufgrund der Umstände des Einzelfalls ergeben, zB wenn erforderliche Befunde vom behandelnden Arzt unberechtigt nicht vorgelegt werden.
Normenkette
SGG § 192 Abs. 4 S. 1, § 54 Abs. 2 S. 2, § 131 Abs. 2-3, §§ 157, 183, 197a Abs. 1; SGB X § 20 Abs. 1-2, § 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; SGB IX § 229; JVEG § 8a Abs. 2 S. 1 Nr. 2; VwGO § 154 Abs. 2; GKG § 3 Abs. 1, 2 Anl. 1 Nr. 7504
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 15. Mai 2017 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Die nach § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch ansonsten zulässige Beschwerde ist unbegründet. Im Ergebnis hat das Sozialgericht dem Beklagten zu Recht die Kosten des vom Gericht eingeholten Sachverständigengutachtens von Dr. N. nebst ergänzender Stellungnahme auferlegt.
Nach § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG kann das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden.
In der Gesetzesbegründung (Bundestags-Drucksache 16/7716, Seite 23) finden sich dazu folgende Erwägungen: „Teilweise werden Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen oder nur unzureichend betrieben und müssen im Sozialgerichtsverfahren nachgeholt werden. Dies führt zu einer Verzögerung des Rechtsstreits. Gleichzeitig findet eine Kostensteigerung statt, da die Ermittlungen im gerichtlichen Verfahren - beispielsweise durch Einschalten externer Gutachter - teurer sind. Schließlich findet auch eine Kostenverlagerung von den Haushalten der Leistungsträger zu den Landesjustizhaushalten statt. Vor diesem Hintergrund soll den Sozialgerichten die Möglichkeit gegeben werden, die Kosten für Ermittlungen, die von der Verwaltung vorzunehmen gewesen wären, dieser aufzubürden. Mit der Regelung sollen im gerichtlichen Verfahren entstandene Kosten, die den Justizhaushalten durch unterlassene Ermittlungen des Leistungsträgers im Verwaltungsverfahren entstehen, „zurückverlagert“ werden (Bundestags-Drucksache 16/7716 Seite 23). Dies soll unabhängig vom Verfahrensausgang möglich sein. Die Norm hat mangels eines Sanktionsapparates eine eher präventive Wirkung. Sie hat zum Ziel, die Verwaltungen vor dem Hintergrund der möglichen Kostenfolge zu sorgfältiger Ermittlung anzuhalten, die bei den Gerichten zu Entlastungseffekten führt.“
Die Anwendung der Vorschrift des § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG setzt "im Verwaltungsverfahren" unterlassene "erkennbare und notwendige Ermittlungen" voraus. Zeitlich kommt es danach auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens, d. h. den Erlass des Widerspruchsbescheides an. Zu diesem Zeitpunkt müssen die später vom Gericht durchgeführten Ermittlungen "notwendig", d. h. entsprechend der Amtsermittlungspflicht der Verwaltung (§§ 20, 21 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X) unverzichtbar gewesen sein; dass sie bloß (möglicherweise) sinnvoll waren, reicht demgegenüber nicht aus. "Erkennbar" waren die Ermittlungen dabei nur dann, wenn sich der Behörde ihre Notwendigkeit ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung bzw. - mangels einer solchen - von einem vertretbaren Rechtsstandpunkt aus erschließen musste. Die Verpflichtung der Behörde zur umfassenden Ermittlung der für den Einzelfall bedeutsamen Umstände folgt dabei schon aus dem im Verwaltungsverfahren ebenfalls geltenden Untersuchungsgrundsatz nach § 20 Abs. 1 und 2 SGB...