Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rücknahme der Leistungsbewilligung. Rechtswidrigkeit. Leistungsausschluss. Bezug einer russischen Altersrente. Anspruch auf Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Antragstellung. Meistbegünstigungsgrundsatz. Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Leistungsfall. Optionskommune. Rücknahme in Höhe des anzurechnenden Renteneinkommens
Orientierungssatz
1. Für Leistungen nach dem SGB 2 und dem SGB 12 gilt, dass wegen der gleichen Ausgangslage sowie der für Laien nur schwer durchschaubaren Abgrenzungsregelungen ein Antrag auf Leistungen nach dem einen Gesetz im Zweifel auch als Antrag nach dem anderen Gesetz zu werten ist.
2. Die für die Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 18 Abs 1 SGB 12 erforderliche Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Leistungsfall liegt vor, wenn der Beklagte als zugelassener kommunaler Träger im Sinne des § 6a SGB 2 sowohl Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende als auch zuständiger Sozialhilfeträger ist.
3. Eine Rücknahme der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB 2 wegen des Verschweigens einer ausländischen Altersrente kommt bei Identität der Leistungsträger nach dem SGB 2 und dem SGB 12 nur in der Höhe in Betracht, in der die Altersrente im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB 12 als Einkommen anzurechnen ist.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 20. Oktober 2016 abgeändert. Der Bescheid vom 4. April 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2014 wird insoweit aufgehoben, als darin die Leistungsbewilligung für Januar 2006 um mehr als 12,07 €, für Februar 2006 überhaupt, für März 2006 um mehr als 254,13 €, für April 2006 um mehr als 103,99 €, für Mai 2006 um mehr als 87,94 € und für Juni 2006 um mehr als 88,92 € zurückgenommen wird, und soweit darin eine Erstattung von mehr als 547,05 € angeordnet wird. Insoweit wird die Klage abgewiesen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte und die Beigeladene tragen die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 80 %.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rücknahme der Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Zeitraum Januar bis Juni 2006 wegen des Bezuges einer russischen Altersrente.
Die 1949 geborene Klägerin besitzt sowohl die deutsche als auch die russische Staatsangehörigkeit. Seit Oktober 2004 bezieht sie vom russischen Rentenfond eine Altersrente. Voraussetzung für diese Rente, die Frauen ab dem 55. Lebensjahr beziehen können, war der Nachweis von fünf Versicherungsjahren. Die Rente wurde auf ein russisches Sparbuch gezahlt. Etwa einmal jährlich fuhr die Klägerin nach Russland und ließ die Zahlungen auf dem Sparbuch eintragen. Die Rente belief sich auf umgerechnet etwa 80 € monatlich. Im März 2006 wurden 2.837,56 Rubel sowie als Nachzahlung 5.675,12 Rubel gezahlt. Im April bis Juni 2006 wurden jeweils 3.037,31 Rubel gezahlt. Weiterhin wurden im Januar 2006 Zinsen in Höhe von 414,49 Rubel sowie im April 2006 in Höhe von 477,29 Rubel gutgeschrieben.
Die Klägerin, die ab Mai 2003 Sozialhilfe bezogen hatte, beantragte am 24. August 2004 für sich und ihren mit ihr zusammenlebenden, 1951 geborenen Ehemann ab dem 1. Januar 2005 Arbeitslosengeld II. Ausdrücklich wurde in dem Antragsformular ausgeführt, u.a. Renten aus der Sozialversicherung, Betriebsrenten oder Pensionen seien als Einkommen zu berücksichtigen. Dieser Punkt wurde mit einem Textmarker markiert. Die Klägerin kreuzte an, weder sie noch ihr Ehemann verfügten über Einkommen. Bei dem Zusatzblatt zur Feststellung von Vermögen kreuzte sie an, sie verfüge über keine Sparbücher o.ä. Bei den Fortzahlungsanträgen gab sie jeweils an, es seien keine Änderungen eingetreten. Die Warmmiete für die von der Klägerin und ihrem Ehemann bewohnte Wohnung betrug 337,41 € monatlich. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 22. Februar 2006 für Januar bis Juni 2006 Leistungen ohne Berücksichtigung von Einkommen. Als Kosten der Unterkunft berücksichtigte sie die Warmmiete abzüglich eines Warmwasseranteils von 2,40 €. Auf die Klägerin entfielen 466,52 € monatlich.
Mit Schreiben vom 6. August 2012 bat die Beklagte die Klägerin um Mitteilung, ob sie eine russische Rente erhalte. Die Klägerin teilte hierauf am 14. August 2012 persönlich den Rentenbezug und die Umstände der Auszahlung mit. Nachdem die Klägerin auf Anforderung eine Bescheinigung über die Höhe der Auszahlungsbeträge vorgelegt hatte, gab die Beklagte ihr mit Schreiben vom 28. Februar 2013 Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Rücknahme der Leistungsbewilligung im Zeitraum Januar 2005 bis August 2012 mit einem Umfang von insgesamt 44.295,43 €. Die Klägerin teilte mit, sie habe nicht gewusst, dass die russische Rente in Deutschland Einkommen sei. Mit Bescheid vom 4. April 2013 nahm die Beklagte gegenüber der Klägerin die Leistungsbewilligung für Januar bis Juni 2006 ganz z...