Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Berufung. Verfahrensfehler. falsche Beklagtenbezeichnung. offenkundiger Irrtum. keine Berichtigung auf Antrag des Klägers. Klageabweisung aufgrund fehlender Passivlegitimation. Ermittlung des Klagegegners. Wille des Klägers. Rubrumsberichtigung. keine Klageänderung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es ist verfahrensfehlerhaft, wenn das Sozialgericht eine offenkundig irrtümlich falsche Beklagtenbezeichnung in der Klageschrift nach Antrag des Klägers auf Rubrumsberichtigung nicht entsprechend korrigiert, sondern die Klage gegen den in der Klageschrift bezeichneten (falschen) Beklagten mangels Passivlegitimation (auch noch „als unzulässig“) abweist (hier: Klage auf Feststellung eines höheren Grades der Behinderung gegen den Freistaat Thüringen anstatt gegen den zuständigen Landkreis).

2. Für die Frage, wer nach dem Willen des Klägers Beklagter sein soll, ist entscheidend, wie das Rechtsschutzbegehren bei Berücksichtigung aller bekannten Umstände verstanden werden musste.

3. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine Klageänderung iS von § 99 Sozialgerichtsgesetz (juris: SGG).

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 16. Februar 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).

Bei der 1957 geborenen Klägerin wurde durch Bescheid vom 16. Juni 2008 wegen Diabetes mellitus und Morbus Basedow ein GdB von 30 ab dem 29. Februar 2008 festgestellt. Auf den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 27. Mai 2014 wurde mit Bescheid vom 13. Oktober 2014 der GdB aufgrund der Diabetes mellitus-Erkrankung auf 40 angehoben.

Am 15. April 2019 stellte die Klägerin mit Hinweis auf die Belastungen, die sie aufgrund ihrer Diabeteserkrankung durchmache, einen Neufeststellungsantrag. Sie schilderte ihren Therapieaufwand und die psychischen Auswirkungen der Krankheit. Außerdem fügte sie ihr Diabetestagebuch für die Zeit vom 26. Oktober 2018 - 3. März 2019 bei. Der Beklagte holte einen Befundbericht von W1 und dem Augenarzt E ein. Der Beklagte sah einen weiteren Einzel-GdB von 10 für den Bluthochdruck als gegeben an, lehnte aber eine Änderung des Bescheids vom 13. Oktober 2014 hinsichtlich des Gesamt-GdB von 40 ab.

Dagegen hat sich die Klägerin mit Widerspruch vom 19. August 2019 gewandt. Sie ist der Ansicht, dass allein ihre Diabetes mellitus-Erkrankung schon einen GdB von 50 rechtfertige. Sie schildert nochmal ihre Einschränkungen und übermittelt das Diabetestagebuch vom 24. August - 8. November 2019. Der Beklagte holte einen erneuten Befundbericht von W1 ein und zog den Entlassungsbericht der Reha-Knappschaftsklinik N, wo die Klägerin vom 20. August - 10. September 2019 an einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation teilgenommen hat, bei. Die Klägerin hat am 11. Februar 2020 erklärt, dass es bei ihr häufig zu Hypoglykämien komme, die in der Regel allerdings selbst behandelt werden könnten. Im September und Dezember 2018 sowie Februar 2019 seien Hypoglykämien mit Bewusstlosigkeit aufgetreten. Sie habe im März 2019 einen Sensor und im September 2020 eine Insulinpumpe erhalten. Dem Beklagten lag ein weiterer Befund von W1 vom 20. Februar 2020 vor. Der Beklagte gab den Widerspruch zur Entscheidung an das Thüringer Landesverwaltungsamt ab. Dieses wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2020 für den Freistaat Thüringen zurück.

Am 27. November 2020 erhob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin gegen den „Freistaat Thüringen, vertreten durch das Thüringer Landesverwaltungsamt“ Klage vor dem Sozialgericht Gotha. Nachdem der damalige Beklagte beantragt hatte, die Klage als unzulässig abzuweisen, weil sie sich nicht gegen den passiv legitimierten Landkreis richte, teilte das Sozialgericht mit, dass die Voraussetzungen für eine Berichtigung des Passivrubrums nicht vorlägen und eine Klageänderung nicht sachdienlich sei. Der Prozessbevollmächtigte bat um Änderung des Passivrubrums auf den Landkreis Weimarer Land, was das Sozialgericht ablehnte. Mit Gerichtsbescheid vom 16. Februar 2021 wies das Sozialgericht Gotha die Klage als unzulässig ab, weil sie sich gegen den falschen Beklagten richte. Eine Klageänderung auf den Landkreis sei nicht sachdienlich, denn dafür sei die Klagefrist abgelaufen.

Der Gerichtsbescheid wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 16. März 2021 zugestellt. Mit der gegen den Landkreis gerichteten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 16. Februar 2021 aufzuheben und den Bescheid vom 13. August 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2020 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr ab 15. April 2019 einen Gesamt-GdB von mindestens 50 zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die ...

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