Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Verweisbarkeit eines Verkaufsstellenleiters ohne Ausbildung zum Verkäufer auf die Tätigkeit eines Poststellenmitarbeiters
Leitsatz (amtlich)
Zum Berufsschutz einer Verkaufsstellenleiterin ohne Ausbildung zur Verkäuferin.
Orientierungssatz
Ein Verkaufsstellenleiter ohne Ausbildung zum Verkäufer kann zumutbar auf die Tätigkeit eines Poststellenmitarbeiters verwiesen werden.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 4. Juli 2012 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.
Die 1955 geborene Klägerin absolvierte von 1972 bis 1975 eine Ausbildung zum Facharbeiter für chemische Produktion mit Abitur. Danach nahm sie ein Pädagogikstudium auf, das sie ohne Abschluss beendete. Von 1979 bis 1992 arbeitete sie als Laborantin. Von 1992 bis 1994 absolvierte sie eine Umschulung zur Bankkauffrau. Seit 1995 war sie als Verkäuferin bei der … KG tätig. Laut Arbeitgeberauskunft vom 3. Juli 2009 handelte es sich um eine Tätigkeit, die bei ungelernten Arbeitnehmern eine Anlernzeit von zwei Monaten erfordert hätte. Im August 2008 erlitt sie einen Myokardinfarkt der Vorderwand und bezog seit dem 7. Oktober 2008 Krankengeld. Mit Wirkung zum 1. September 2008 bewilligte die Beklagte ihr eine Rente wegen verminderter Berufsfähigkeit im Bergbau.
Im Januar 2009 beantragte sie die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog den Rehabilitationsentlassungsbericht der … vom 27. Oktober 2008 (Diagnosen: Zustand nach Reanimation bei Kammerflimmern am 28. August 2008, Zustand nach akutem Myokardinfarkt der Vorderwand am 28. August 2008, koronare 1-Gefäßerkrankung, Zustand nach PTCA und Stentimplantation der proximalen Riva von 100 auf 0 v.H.; Leistungsbild: leichte bis mittelschwere Arbeiten unter Beachtung von Einschränkungen sechs Stunden und mehr) bei und holte eine sozialmedizinische Stellungnahme der Dipl.-Med. St. vom 28. Januar 2009 ein. Mit Bescheid vom 6. Februar 2009 lehnte sie die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. März 2009).
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) auf Antrag der Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein internistisches Gutachten des Dr. J. vom 28. Februar 2011 eingeholt. Er hat eine leichte diastolische Herzinsuffizienz sowie eine mäßiggradige obstruktive Ventilationsstörung diagnostiziert und ausgeführt, neben den körperlichen Befunden falle auf, dass die Klägerin unter extremen Angstzuständen leide. Sie könne leichte und mittelschwere Arbeiten unter Beachtung von Einschränkungen ausüben. Er empfehle ein psychosomatisches Gutachten beizuziehen. Bei der Beantwortung der Beweisfrage 9 führt er aus, er halte eine psychosomatische, insbesondere eine psychokardiologische Begutachtung für dringend erforderlich. Daraufhin hat das SG ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten des Dr. B. vom 21. Juni 2011 eingeholt. Dieser hat u.a. eine geringgradige anhaltende affektive Störung bei Arbeitslosigkeit und phobischen Befürchtungen und eine somatoforme autonome Funktionsstörung des Herz- und Kreislaufsystems diagnostiziert. In der Strukturdiagnose gibt er an, die Klägerin sei eine altruistisch-pflichtbewusste Persönlichkeit mit phobischen Befürchtungen nach Herzinfarkt 2008 und noch gut erhaltener individueller Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit der Struktur genannt. Sie könne aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht weiterhin vollschichtig leichte bis mittelschwere Arbeiten ausüben.
Mit Urteil vom 4. Juli 2012 hat das SG die Klage abgewiesen.
Im Berufungsverfahren macht die Klägerin geltend, das SG hätte eine psychokardiologische Begutachtung veranlassen müssen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 4. Juli 2012 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 6. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. März 2009 zu verurteilen, ihr ab dem 1. Februar 2009 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf ihr erstinstanzliches Vorbringen und die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils.
Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme des Dr. B. vom 26. August 2014 eingeholt, wonach eine psychokardiologische Begutachtung nicht erforderlich ist und den Beteiligten die anonymisierte Kopie des Gutachtens der berufskundlichen Sachverständigen J. vom 6. Juni 2004 zur Tätigkeit eines Produktionshelfers/Poststellenmitarbeiterin aus einem anderen Verfahren des Senats (Az.: L 6 RJ 301/02) zur Kenntnisnahme übersandt.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der ...