Entscheidungsstichwort (Thema)
Ordnungswidrigkeiten. anthropologisches Identitätsgutachten. Sachverständigengutachten. Darstellung. Urteilsgründe. Anforderungen an die Darstellung der Beweiswürdigung im Bußgeldurteil bei Verwertung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens zur Fahreridentifizierung
Leitsatz (amtlich)
1. Angaben zum Verbreitungsgrad der der Beurteilung der Identität zugrunde gelegten morphologischen Merkmale im Urteil sind nur dann geboten, wenn der Sachverständige eine Wahrscheinlichkeitsberechnung angestellt und daraus unmittelbar das Ergebnis des Gutachtens abgeleitet hat.
2. Gelangt der Sachverständige dagegen auf anderem Wege als durch eine Wahrscheinlichkeitsberechnung zu seinem Ergebnis hinsichtlich der Frage der Identität, muss der Tatrichter, der sich dem Sachverständigengutachten anschließt, zunächst die Anknüpfungstatsachen des Sachverständigengutachtens mitteilen, d.h. das ausgewertete Bildmaterial bzw. die Inaugenscheinnahme des Betroffenen und die vom Sachverständigen dabei herausgearbeiteten morphologischen Merkmale, die er einem Vergleich unterzogen hat. Sodann ist darzustellen, in welchem Maße der Sachverständige Übereinstimmungen festgestellt hat, und welche Aussagekraft er ihnen zumisst, d.h. wie er die jeweilige Übereinstimmung bei der Beurteilung der Identität gewichtet.
Normenkette
StPO §§ 261, 267 Abs. 1
Verfahrensgang
AG Suhl (Entscheidung vom 11.11.2010; Aktenzeichen 330 Js 14276/09-1 OWi) |
Tenor
Das Urteil des Amtsgerichts Suhl vom 11.11.2010 wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Prüfung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Suhl zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Thüringer Polizei - Zentrale Bußgeldstelle - erließ im Jahr 2009 gegen den Betroffenen drei Bußgeldbescheide wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften. Durch Bußgeldbescheid vom 25.3.2009 wurde eine am 9.12.2008 um 16.04 Uhr auf der BAB 71 begangene Überschreitung um 53 km/h mit einer Geldbuße von 150,00 € und einem Fahrverbot von einem Monat geahndet, durch Bußgeldbescheid vom 26.3.2009 eine am 7.1.2009 um 20.35 Uhr auf der BAB 71 begangene Überschreitung um 28 km/h mit einer Geldbuße von 75,00 € und durch Bußgeldbescheid vom 2.4.2009 eine am 15.2.2009 um 21.47 Uhr auf der BAB 71 begangene Überschreitung um 27 km/h mit einer Geldbuße von 80,00 €. Der Betroffene legte gegen alle drei Bußgeldbescheide fristgerecht Einspruch ein.
Durch Beschluss vom 1.10.2009 verband das Amtsgericht Suhl die drei Verfahren unter Führung des Verfahrens 330 Js 14276/09.
Das Amtsgericht Suhl holte ein Sachverständigengutachten zur Identität des Betroffenen mit dem auf den Messfotos abgebildeten Fahrzeugführer ein. In seinem schriftlichen Gutachten vom 29.10.2009 gelangte der Sachverständige für Anthropologie Prof. Dr. F R, B, zu dem Ergebnis, dass der auf den Messfotos abgebildete Fahrzeugführer und der Betroffene "sehr wahrscheinlich" identisch seien. Im Hauptverhandlungstermin vom 11.11.2010 erläuterte der Sachverständige sein Gutachten und änderte seine Einschätzung bezüglich einer der drei Taten dahin, dass insoweit eine Identität von Betroffenem und abgebildeter Person sogar "höchst wahrscheinlich" sei.
Im selben Termin verurteilte das Amtsgericht Suhl den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerorts um 53 km/h zu einer Geldbuße von 150,00 € und ordnete insoweit ein Fahrverbot von 1 Monat Dauer an, wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerorts um 28 km/h zu einer Geldbuße von 75,00 € und wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerorts um 27 km/h zu einer Geldbuße von 80,00 €.
Am 18.11.2010 legte der Betroffene durch seinen Verteidiger gegen das Urteil vom 11.11.2010 Rechtsbeschwerde ein und begründete diese, nachdem das schriftlich abgefasste, mit Gründen versehene Urteil dem Verteidiger des Betroffenen am 10.1.2011 zugestellt worden war, am 25.1.2011 mit näher ausgeführten Verfahrensrügen und der auf fehlerhafte Tatsachenfeststellung gestützten Sachrüge.
Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft beantragt in ihrer Stellungnahme vom 22.3.2011, die Rechtsbeschwerde - auch soweit sie der Zulassung unterliegt - als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
Soweit sich die Rechtsbeschwerde gegen die Verurteilung zu Geldbußen von 75 € und 80 € richtet, ist sie gem. § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zugelassen worden. Zugleich ist das Verfahren gem. § 80a Abs. 3 OWiG auf den Senat übertragen worden.
Der Senat hat durch Beschluss vom 16.5.2011 die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens zu der Fragestellung beschlossen, ob es zur Feststellung der Identität eines Betroffenen mit dem auf dem von einer Verkehrsüberwachungsanlage gefertigten Foto abgebildeten Fahrzeugführer möglich und ggf. erforderlich ist, Aussagen zur Seltenheit oder Häufigkeit eines zur Identifizierung herangezogene...