Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 922
Die Tarifvertrags- und Betriebspartner nehmen in der Auswahlrichtlinie eine Bewertung der in § 1 Abs. 3 KSchG genannten sozialen Gesichtspunkte vor und setzen Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung in ein bestimmtes Verhältnis zueinander. Die Gewichtung der Auswahlkriterien erfolgt regelmäßig durch ein Punkteschema.
Rz. 923
Bei der Verwendung eines Punkteschemas bedarf es keiner abschließenden Einzelfallprüfung, da andere als die 4 gesetzlich aufgeführten Sozialauswahlkriterien nicht zu berücksichtigen sind. .
Rz. 924
Ein Punkteschema, das von den Tarifvertrags- und Betriebspartnern in einer Auswahlrichtlinie festgelegt wird, kann dagegen für sich eine gesetzliche Richtigkeitsvermutung in Anspruch nehmen, sodass ein Arbeitsgericht die vorgenommene Bewertung nur auf grobe Fehler überprüft. Die Tarifvertrags- und Betriebspartner haben daher im Rahmen des § 1 Abs. 4 KSchG tendenziell einen größeren Spielraum, dessen genaue Grenzen durch die Rechtsprechung noch nicht definiert sind. Im Übrigen können die Parteien sich in ihrer Richtlinie zwar auf eine bloße Vorauswahl beschränken, nach h. M. aber auch eine abschließende Gewichtung der Auswahlkriterien vornehmen. Die Auswahlrichtlinie darf dem Arbeitgeber indessen keinen über § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG hinausgehenden Beurteilungsspielraum gewähren.
Das BAG hat wiederholt folgendes Punkteschema für zulässig gehalten:
Betriebszugehörigkeit |
|
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bis zum 10. Jahr je Dienstjahr |
1 Punkt |
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ab dem 11. Jahr bis maximal 55. Lebensjahr je Dienstjahr |
2 Punkte |
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maximal |
70 Punkte |
Lebensalter |
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je Lebensjahr bis maximal 55. Lebensjahr |
1 Punkt |
Unterhaltspflichten |
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Ehepartner |
8 Punkte |
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Kind |
4 Punkte |
Schwerbehinderung |
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Grad der Behinderung von 50 |
5 Punkte |
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je weiteren Grad der Behinderung von 10 |
1 Punkt |
Rz. 925
Das LAG Hamm hat ein Punkteschema bestätigt, das den Mitarbeitern für jedes vollendete Lebensjahr 1Punkt und für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit 2 Punkte zuordnete. Unterhaltspflichten wurden mit 4 Punkten je unterhaltsberechtigter Person berücksichtigt. Schwerbehinderte Arbeitnehmer erhielten 5 Zusatzpunkte.
Rz. 926
Das BAG hat ferner eine gestaffelte Bewertung des Lebensalters akzeptiert. Das Lebensalter von Mitarbeitern, die 20 Jahre oder jünger waren, spielte im Rahmen der Sozialauswahl keine Rolle. Mitarbeiter bis zum vollendeten 30. Lebensjahr erhielten 1Punkt, Mitarbeiter bis zum vollendeten 40. Lebensjahr bereits 3 Punkte. Bei Mitarbeitern über 57 Jahren war das Lebensalter schließlich 10 Punkte wert. Daneben wurden vollendete Jahre der Betriebszugehörigkeit mit 1Punkt sowie Unterhaltspflichten mit jeweils 3 Punkten berücksichtigt. Eine eventuelle Schwerbehinderung wurde – entsprechend der damaligen Rechtslage – nicht berücksichtigt; insofern wäre dieses Punkteschema heute ergänzungsbedürftig.
Rz. 927
Zentrales Element der beschriebenen Punktetabellen ist das Alter der Arbeitnehmer. Gerade dieses Kriterium stand seit der Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) auf dem Prüfstand. Das BAG hat zwischenzeitlich jedoch bestätigt, dass sowohl die Berücksichtigung des Lebensalters als auch die Bildung von Altersgruppen bei einer sozialen Auswahl nach wie vor zulässig sind. Das Gesetz lege in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG selbst entsprechende Kriterien für eine unterschiedliche Behandlung fest, indem es das Lebensalter als eines von 4 gleichgewichtig zu berücksichtigenden Merkmalen festschreibe. Ausschlaggebend sei dabei immer, dass die an das Alter anknüpfende Regelung ein legitimes Ziel verfolge, also etwa den Schutz älterer Arbeitnehmer angesichts schlechterer Chancen auf dem Arbeitsmarkt, den Schutz jüngerer Arbeitnehmer vor einer Überforderung oder die Wahrung der bestehenden Altersstruktur innerhalb des Betriebs.
Das BAG hat folgendes Punkteschema unter dem Gesichtspunkt einer Ungleichbehandlung wegen des Alters geprüft und nicht beanstandet.:
Betriebszugehörigkeit |
je Dienstjahr |
2 Punkte |
Lebensalter |
je Lebensjahr bis maximal 59. Lebensjahr |
1 Punkt |
Unterhaltspflichten |
Ehepartner |
5 Punkte |
|
Kind |
10 Punkte |
Schwerbehinderung |
Grad der Behinderung von 50 |
10 Punkte |
Die Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) wirft die Frage auf, ob Differenzierungen anhand des Alters der Arbeitnehmer als statthaft anzusehen sind.
Eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des Alters ist nach § 10 AGG zulässig, wenn sie "objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt" ist. Die Mittel, die zur Erreichung dieses legitimen Ziels eingesetzt werden, müssen ihrerseits angemessen und erforderlich sein.
Das BAG sieht in der gesetzlichen Sozialauswahl daher keinen Verstoß gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung. Die Möglichkeit, Altersgruppen zu bilden, relativiere die tendenzielle Bevorzugung älterer Arbeitnehmer zugunsten der jüngeren Arbeitnehmer. Beide Ziele – Schutz älterer Arbeitnehmer und Eingliederung jüngerer Arbeitne...