Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 33
Bei der Planung eines Personalabbaus in erheblichem Umfang ist neben der Kenntnis der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsrechte (§§ 92 Abs. 1, 106 ff., 111 ff., 102 BetrVG) wichtig, dass der Arbeitgeber die Systematik und Funktionsweise der Vorschriften über die Massenentlassungsanzeige versteht und beachtet. Die Mitwirkungsrechte nach dem BetrVG stehen neben den Beteiligungsrechten des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 und 3 KSchG. In der Praxis kann die Mitwirkung des Betriebsrats nach Abs. 2 sowie nach §§ 111 ff., 92 und 102 BetrVG zusammengefasst werden, indem der Arbeitgeber bei Behandlung der Massenentlassung mit dem Betriebsrat auch die einzelnen Fälle der betroffenen Arbeitnehmer bespricht. Soweit die dem Arbeitgeber obliegenden Pflichten aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG mit denen nach § 111 BetrVG übereinstimmen, kann er sie gleichzeitig erfüllen. Er muss in diesem Fall hinreichend klarstellen, dass und welchen Pflichten er zeitgleich nachkommen will. Die Einleitung des Konsultationsverfahrens erfordert zumindest, dass dem Betriebsrat die Absicht des Arbeitgebers erkennbar ist, Massenentlassungen vorzunehmen. Der Arbeitgeber sollte also stets klarmachen und genau dokumentieren, welche Pflichten er im Einzelnen erfüllt, um unerwünschte Rechtsfolgen zu vermeiden (z. B. Unwirksamkeit der Kündigung nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG; Ordnungswidrigkeit nach § 121 BetrVG) und um den Betriebsrat in die Lage zu versetzen, seine Mitbestimmungsrechte ordnungs- und fristgemäß auszuüben.
Es empfiehlt sich, auf Basis des ausverhandelten Interessenausgleichs und Sozialplans den Entwurf der Massenentlassungsanzeige unter Beachtung der europa- und verfassungsrechtlichen Aspekte – wie europarechtlicher Betriebsbegriff (Rz. 51 ff.) und Arbeitnehmerbegriff (Rz. 59 ff.), verfassungskonforme Erweiterung des Entlassungsbegriffs (Rz. 28 ff.) – zu erstellen und in einem Beiblatt vorsorglich auch Angaben zu den rechtlich ungeklärten Punkten aufzunehmen (z. B. zu Leiharbeitnehmern, GmbH-Fremdgeschäftsführern und leitenden Angestellten, bei denen unklar ist, ob sie bei den Arbeitnehmerzahlen und bei den Entlassungen mitzuberücksichtigen sind [vgl. Rz. 61 ff.], oder in Bezug auf standortbezogene Angaben bei Zweifeln über den Betriebsbegriff). Der Entwurf der Anzeige wird dann dem zuständigen Betriebsrat zum Zwecke des Konsultationsverfahrens ausgehändigt. Er enthält die – bereits im verhandelten Sozialplan niedergelegten – Kriterien für die Berechnung der Abfindungen (§ 17 Abs. 2 Nr. 6 KSchG) sowie die in § 17 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 KSchG genannten Punkte, die nicht nur dem Betriebsrat, sondern auch der Agentur für Arbeit mitzuteilen sind (§ 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG). Da der Massenentlassungsanzeige später die Stellungnahme des Betriebsrats beizufügen ist (§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG), ist zudem zu empfehlen, in den Interessenausgleich eine ausdrückliche Regelung aufzunehmen, dass der Betriebsrat seine Beteiligungsrechte als gewahrt ansieht (vgl. 118, 133).
3.1 Frühere Praxis vor der "Junk"-Entscheidung
Rz. 34
Hinsichtlich der Massenentlassungsanzeige ging die Praxis vor der "Junk"-Entscheidung des EuGH (Rz. 16) wie folgt vor (vgl. Rz. 15, 155, 172): Zunächst wurde festgestellt, ob die beabsichtigten Beendigungen von Arbeitsverhältnissen die Schwellenwerte nach § 17 Abs. 1 KSchG innerhalb des dort geregelten Zeitraums von 30 Kalendertagen überschreiten. Abzustellen war hierbei auf den Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des jeweiligen Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der einschlägigen Kündigungsfrist. Bei Überschreiten der Schwellenwerte hatte der Arbeitgeber den Betriebsrat – falls vorhanden – nach § 17 Abs. 2 KSchG zu unterrichten und mit ihm über die Möglichkeiten der Vermeidung oder Einschränkung der Entlassungen sowie der Milderung der Folgen zu beraten. Spätestens nach 2 Wochen und einem Tag (vgl. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG) konnte der Arbeitgeber die Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG der Agentur für Arbeit erstatten. Der Zeitpunkt der Anzeige war unter Berücksichtigung der Kündigungsfristen so zu wählen, dass der Zeitpunkt der jeweiligen Entlassung, d. h. der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, nicht in die Sperrfrist (§ 18 Abs. 1 und 2 KSchG), sondern in die Freifrist (§ 18 Abs. 4 KSchG) fiel. Der Ausspruch der Kündigungen war allein abhängig von den zu beachtenden Kündigungsfristen.
3.2 Heutige Praxis
Rz. 35
Durch die "Junk" -Entscheidung (Rz. 16) und die darauf zurückgehende Änderung der Rechtsprechung des BAG hat sich diese Praxis grundlegend geändert. Heute ist wie folgt zu verfahren (vgl. Rz. 20 ff.):
Rz. 36
Zunächst ist festzustellen, ob die beabsichtigten Beendigungen von Arbeits...