3.1 Abhängigkeit von der Betriebsgröße
Rz. 10
Durch das Betriebsverfassungs-Reformgesetz ist die Grenze der Betriebsgröße von 1000 auf 500 Arbeitnehmer gesenkt worden. Liegt die Betriebsgröße unterhalb der Grenze, steht das Initiativrecht über die Einführung einer Richtlinie allein dem Arbeitgeber zu. Dies hat zur Konsequenz, dass der Arbeitgeber – sofern er mit dem Betriebsrat über den Inhalt der in Aussicht genommenen Richtlinie in Streit geraten sollte – selbst noch im Einigungsstellenverfahren seinen Antrag zurückziehen kann. Zudem ist er wegen des freiwilligen Charakters einer über eine solche Richtlinie geschlossenen Betriebsvereinbarung berechtigt, diese jederzeit zu kündigen. Ein einheitliches Initiativrecht des Gesamtbetriebsrats zur erzwingbaren Aufstellung von Auswahlrichtlinien gemäß § 95 Abs. 2 BetrVG für die vom Arbeitgeber betriebenen, mehreren Standorten ist im Übrigen nicht anerkannt, wenn in den einzelnen Standorten jeweils nicht mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt werden und eine Zusammenrechnung aller Arbeitnehmer in den drei Standorten aus Rechtsgründen nicht möglich ist (LAG München, Beschluss v. 5.5.2010, 11 TaBV 93/09).
Rz. 11
In Betrieben mit mehr als 500 Arbeitnehmern kann der Betriebsrat die Aufstellung von Richtlinien über die bei Maßnahmen des Abs. 1 Satz 1 zu beachtenden fachlichen und persönlichen Voraussetzungen sowie sozialen Gesichtspunkten verlangen (§ 95 Abs. 2 BetrVG). Kommt in diesem Fall eine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat nicht zustande, entscheidet wiederum die Einigungsstelle. Sowohl Arbeitgeber als auch Betriebsrat sind berechtigt, die Einigungsstelle anzurufen.
3.2 Exkurs: Kündigungsschutz
Rz. 12
§ 1 Abs. 4 KSchG nimmt die Richtlinie des § 95 BetrVG ausdrücklich in Bezug. Sofern in einem Tarifvertrag, in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG oder in einer entsprechenden Richtlinie nach den Personalvertretungsgesetzen festgelegt ist, wie die sozialen Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 Satz. 1 KSchG im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, kann die Bewertung allein auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Die Betriebspartner sind aufgrund der seit dem 1.1.2004 geltenden Rechtslage in die Lage versetzt worden, die Gewichtung der nunmehr allein relevanten sozialen Gesichtspunkte – Alter, Beschäftigungsdauer, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung (§ 1 Abs. 3 Satz. 1 KSchG) – vorzunehmen. Die Bewertung von in der Richtlinie benannten sozialen Gesichtspunkten untereinander ist also vom Arbeitsgericht im Rahmen des Kündigungsschutzprozesses allein auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen.
Rz. 13
Das juristische Schrifttum diskutiert durchaus kontrovers, ob der Betriebsrat nach § 95 Abs. 1 BetrVG mitzubestimmen hat, wenn der Arbeitgeber der Sozialauswahl bei konkret anstehenden betriebsbedingten Kündigungen ein Punkteschema zugrunde legen will. Das BAG hat diese Frage bejaht (BAG, Beschluss v. 26.7.2005, 1 ABR 29/04), indes offen gelassen, welche Sanktion dem Arbeitgeber drohe, wenn er ein solches Punkteschema ohne die Zustimmung der Belegschaftsvertretung anwende. Für die Praxis ist aus der Erfurter Entscheidung der Hinweis abzuleiten, im Zweifel den Betriebsrat über die Auswahlentscheidung auf dem Hintergrund des Schemas erst gar nicht zu unterrichten. Das BAG hat nämlich ferner bestimmt, dass ein Mitbestimmungsrecht nicht bestehe, wenn der Arbeitgeber die eigentliche Auswahlentscheidung losgelöst von der Vorauswahl im Rahmen einer Einzelfallabwägung treffe. Indes ist der Arbeitgeber jedenfalls an ein von ihm selbst geschaffenes Auswahlsystem gebunden. Setzt sich also der Arbeitgeber über das ihn bindende Auswahlsystem eigenmächtig hinweg, liegt eine grobe Fehlerhaftigkeit vor, die der Betriebsrat gerichtlich zu beanstanden vermag (LAG Hamm (Westfalen), Urteil v. 6.4.2011, 6 Sa 2023/10). Die Betriebspartner vermögen Auswahlrichtlinien später oder zeitgleich mit dem Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste ändern. Setzen sie sich über einen Punkt der Auswahlrichtlinie hinweg, gilt die im Interessenausgleich enthaltene Namensliste (BAG, Urteil vom 24.10.2013, 6 AZR 854/11).