Rz. 62

Pflichtteilsberechtigt sind gem. Art. 505 Abs. 1 ZGB und Art. 506 ZGB (zuvor Art. 453) die Abkömmlinge, die Eltern, der Ehegatte, aber auch die Geschwister des Erblassers. Der Pflichtteil ist im Gegenteil zum deutschen Recht kein lediglich schuldrechtlicher Anspruch, sondern ein echtes Noterbrecht.[100] Es ist die den Noterben vorbehaltene quotale Beteiligung am Vermögen des Erblassers, die der Verfügung des Erblassers entzogen ist.

 

Rz. 63

Die Pflichtteilsquote beträgt für einen Nachkommen die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruches (zuvor ¾), für jeden Elternteil ein Viertel (zuvor ½) des gesetzlichen Erbteils.[101] Der Ehegatte erhält neben gesetzlichen Erben das gesamte Erbteil und in den übrigen Fällen drei Viertel (zuvor ½) des gesetzlichen Erbteils als Pflichtteil.

 
Kinder Eltern Geschwister Ehegatte Noterbquoten Freiteil
x / / alleiniges Kind bzw. alle Kinder insgesamt ½ ½
x / / x

Kinder insgesamt ⅜

Ehegatte ¼
x Ehegatte ¾[102] ¼
x / x

Ehegatte ½

beide Eltern insgesamt ¼
¼
x / Eltern insgesamt ¼ ¾
x x Ehegatte ½ 7/16
x Geschwister insgesamt ⅛
 

Rz. 64

Die Umgehung des Pflichtteils wird in der Praxis häufig mit lebzeitigen Scheingeschäften[103] versucht. Der Scheinverkauf (angeblich kein Geschenk) von Grundstücken oder Schein-Leibgedingsvertrag[104] (Verpfründungsvertrag = Unterhalt und Pflege auf Lebenszeit) sind die meist gebrauchten Formen hierfür. Der türkische Kassationshof geht unnachgiebig gegen diese Scheingeschäfte mit Nichtigkeitsurteilen vor, die für die Gerichte verbindlich sind.[105] Auch solche erbrechtlichen Geschäfte werden vom Kassationshof in der Gesamtheit für nichtig erklärt, die nur zum Teil nichtig sind. Der wirksame Teil wird wegen Formmangels (Art. 557 Abs. 4 ZGB) oder wegen Rechts- oder Sittenwidrigkeit (Art. 557 Abs. 3 ZGB) annulliert.[106] Zu Lebzeiten des potenziellen Erblassers darf eine Klage wegen Scheingeschäfts nicht eingereicht werden.[107]

Geschädigte von Scheingeschäften können eine Grundstück-Berichtigungsklage einreichen. Diese Klage unterliegt keinen Verjährungsfristen.[108]

[100] Nach Ansicht von Serozan (ZEV 1997, 479) hat dieser Unterschied zum deutschen Recht keine wesentliche praktische Bedeutung.
[101] Die Pflichtteilsquote für Geschwister wurde mit dem Gesetz Nr. 5650 v. 4.5.2017 aufgehoben, Inan/Ertas/Albas, Miras Hukuku (= Erbrecht), S. 331.
[102] Sollten weitere gesetzliche Erben vorhanden sein, also Großeltern oder deren Abkömmlinge, reduziert sich die Pflichtteilsquote auf 3/8.
[103] Selin Sert Sütcü, Miras Birakanin Muvazaali Hukuki Islemleri ve Sonuclari (Juristische Scheingeschäfte des Erblassers und ihre Folgen), Ankara 2018.
[104] Art. 511–519 OR; vgl. Art. 521–529 schweizer OR; Art. 96 EGBGB.
[105] Großer Senat für Rechtsprechungsvereinheitlichung des Kassationsgerichtshofes vom 2.11.2016, E. 2014/1308, K: 2016/1011.
[106] Vgl. Entscheidung des Kassationshofes vom 8.3.2012, 1. HD, E: 2012/580, K: 2012/2568 (veröffentlicht in der Entscheidungssammlung des Kassationshofes Band 38, 7/2012, S. 1273 ff.); vom 21.1.2013, 1. HD, E: 2012/13587, K: 2013/439 (veröffentlicht in der Entscheidungssammlung des Kassationshofes Band 39, 5/2013, S. 925 ff.); Serozan, ZEV 1997, 479; Ayan, Miras Hukuku, S. 187 f.
[107] Vgl. Entscheidung des Kassationshofes vom 9.2.2010, 1. HD, E: 2009/10655, K: 2010/1248 (veröffentlicht in der Entscheidungssammlung des Kassationshofes Band 36, 9/2010, S. 1583 ff.).
[108] Vgl. Großer Senat für Rechtsprechungsvereinheitlichung des Kassationsgerichtshofes vom 6.5.2015, E. 2013/1–2302, K: 2015/1313; Entscheidung des Kassationshofes vom 25.9.2006, 1. HD, E: 2006/7105, K: 2006/9159 (veröffentlicht in der Entscheidungssammlung des Kassationshofes Band 33, 7/2007, S. 1252 ff.); vom 25.12.2006, 1. HD, E: 2006/12445, K: 2006/13020 (veröffentlicht in der Entscheidungssammlung des Kassationshofes Band 34, 2/2008, S. 204 ff.); vom 8.3.2012, 1. HD, E: 2012/580, K: 2012/2568 (veröffentlicht in der Entscheidungssammlung des Kassationshofes Band 38, 7/2012, S. 1273 ff.); Ayan, Miras Hukuku, S. 189 f.

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