Leitsatz
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-RL zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage verbietet es bei einer Auslegung im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, dass die Mehrwertsteuerbefreiung der von gewerblichen Leistungserbringern erbrachten ambulanten Pflege von einer Bedingung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden abhängig gemacht wird, nach der die Kosten dieser Pflege im vorangegangenen Kalenderjahr in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sein müssen, wenn diese Bedingung nicht geeignet ist, im Rahmen der für die Zwecke dieser Vorschrift erfolgenden Anerkennung des sozialen Charakters von Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, die Gleichbehandlung zu gewährleisten.
Normenkette
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und Abs. 2 6. EG-RL, § 4 Nr. 16 und Nr. 18 UStG
Sachverhalt
Eine examinierte Krankenschwester begann im Juni 1993 mit dem selbstständigen ambulanten Pflegedienst; in diesem Jahr waren 58 % der von ihr versorgten Menschen Privatzahler, und das FA versagte deshalb die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG.
Entscheidung
Die wesentlichen Grundsätze für die Beurteilung von eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen, ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen.
Hinweis
Der BFH hatte mit Beschluss vom 2.3.2011, XI R 47/07, den EuGH gefragt, ob die 2/3-(später 40 %-)Grenze in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG mit Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und/oder Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-RL vereinbar und ob dabei von Bedeutung sei, dass das UStG dieselben Leistungen (im Vorlagefall ambulanten Pflegedienstes) unter anderen Voraussetzungen als steuerfrei behandelt, wenn diese Leistungen von den in § 4 Nr. 18 bezeichneten Personen und unter den dort genannten Bedingungen steuerfrei erbracht werden.
1. Zur Beurteilung als "eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene" Leistung verweist der EuGH auf den Grundsatz der engen Auslegung von Steuerbefreiungen und auf entschiedene Parallelfälle (Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung körperlich oder wirtschaftlich hilfsbedürftiger Personen von ambulanten Pflegediensten) sowie darauf, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, dies unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung zu beurteilen. Jedenfalls ist Voraussetzung für die Beurteilung als "eng verbunden", dass die betreffenden Lieferungen oder Dienstleistungen zur Ausübung der von der Steuer befreiten Tätigkeiten unerlässlich sind.
2. Zur Anerkennung als "Einrichtung mit sozialem Charakter" sind mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Zu ihnen können zählen das Bestehen spezifischer Vorschriften (nationale oder regionale, Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Regelungen im Bereich der sozialen Sicherheit) sowie das mit den betreffenden Tätigkeiten verbundene Gemeinwohlinteresse. Relevant ist die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und der Aspekt, dass die Kosten der fraglichen Leistungen unter Umständen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden. Auf die Regelung des Unionsrechts kann sich der Steuerpflichtige berufen; das nationale Gericht hat dann zu prüfen, ob es sich im Sinne der Richtlinie um eine "als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung" handelt.
3. Die Antwort zur 2/3- bzw. 40 %-Grenze bestätigt eine frühere Entscheidung (EuGH, Urteil vom 16.9.2002, C-141/00, Kügler), nach der es mit Unionsrecht vereinbar ist, dass die Kosten für die betreffenden Leistungen ganz oder zum überwiegenden Teil von den gesetzlichen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern übernommen worden sein müssen.
4. Zum Erfordernis, dass auf das vorangegangene Kalenderjahr abzustellen ist, soll das nationale Gericht prüfen, ob dies zur Folge hat, dass im ersten Jahr dieser Tätigkeiten oder sogar in den ersten beiden Kalenderjahre die Anerkennung des "sozialen Charakters" des betreffenden Leistungserbringers im Sinne dieser Vorschrift automatisch und zwangsläufig ausgeschlossen ist. Ist das der Fall, lässt sich die Einschränkung nicht mit dem Einleitungssatz des Art. 13 Teil A Abs. 1 (Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen und Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen) rechtfertigen.
5. Von besonderer Bedeutung sind die Ausführungen zu § 4 Nr. 18 UStG und zum Neutralitätsgrundsatz. Letzterer sei kein Primärrecht. Er könne daher nicht für ...