Sachverhalt
Bei dem italienischen Verfahren ging es um die Auslegung der 6. EG-Richtlinie vor dem Hintergrund der Grundsätze der Effektivität, der Äquivalenz sowie der steuerlichen Neutralität im Sinne der EuGH-Rechtsprechung.
Die Klägerin, eine Bank, erbrachte in den Jahren 1984 bis 1994 für bestimmte Verbände der Wasserbewirtschaftung Leistungen in Form der Einziehung von Beiträgen. Für diese Leistungen stellte die Bank - der damaligen Rechtsauffassung der Finanzverwaltung entsprechend - den Verbänden MwSt in Rechnung. Im Jahr 1999 änderte die italienische Finanzverwaltung ihre Rechtsauffassung und beurteilte derartige Umsätze nunmehr als steuerfrei. Einer der Verbände der Wasserbewirtschaftung erwirkte daraufhin gegen die Klägerin ein zivilgerichtliches Urteil zur Rückzahlung der ihm in Rechnung gestellten MwSt. Die Klägerin hatte ihrerseits gegen die italienische Finanzverwaltung Klage erhoben. Damit begehrte sie die Rückzahlung der MwSt, die an den Fiskus aufgrund der genannten Leistungen entrichtet wurde. Diese Klage war im Berufungsverfahren mit der Begründung abgewiesen worden, dass der Erstattungsanspruch der Klägerin bereits verjährt sei. Die Klägerin richtete sich in dem EuGH-Verfahren gegen diese Klageabweisung. Sie sah insbesondere den Grundsatz der steuerlichen Neutralität als verletzt an, weil ihre Vertragspartner Ansprüche gegen sie innerhalb einer Verjährungsfrist von zehn Jahren geltend machen könnten, während ihre eigenen Erstattungsansprüche gegenüber dem Fiskus einer Verjährungsfrist von nur zwei Jahren unterlägen.
Der EuGH musste in der vorliegenden Rechtssache die unionsrechtlichen Rahmenbedingungen des Erstattungsanspruchs des Steuerschuldners (hier: des Dienstleistungserbringers) aufgrund rechtsgrundlos gezahlter MwSt untersuchen. Zwar setzte sich das vorlegende Gericht mehrfach mit dem EuGH-Urteil v. 15.3.2007, C-35/05 (Reemtsma Cigarettenfabriken), auseinander und bezog sich in seiner ersten Vorlagefrage auch auf den Erstattungsanspruch des Dienstleistungsempfängers aufgrund rechtsgrundlos gezahlter MwSt, der Gegenstand der genannten Entscheidung war. Die vorliegende Rechtssache unterschied sich jedoch von dem Sachverhalt, der dem EuGH-Urteil in der Sache C-35/05 zugrunde lag. Das Ausgangsverfahren hatte nämlich nur den Erstattungsanspruch aufgrund rechtsgrundlos gezahlter MwSt derjenigen Person zum Gegenstand, die nach Art. 21 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der 6. EG-Richtlinie die Steuer selbst schuldet. Der Erstattungsanspruch des Dienstleistungsempfängers hingegen war im Ausgangsverfahren in keiner Weise umstritten, zumal er bereits in einem anderen Verfahren gerichtlich festgestellt wurde.
Entscheidung
Der EuGH hat entschieden, dass der Grundsatz der Effektivität einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer nicht bestehenden MwSt-Schuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung, die der Leistungsempfänger gegen den leistenden Unternehmer erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die der leistende Unternehmer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegensteht, wenn der Unternehmer die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist nach dem Urteil aber dann nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Unternehmer das Recht, die nicht geschuldete MwSt, die er selbst dem Leistungsempfänger erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird. Einen solchen Fall hat der EuGH im vorliegenden Verfahren aufgrund der besonderen Umstände angenommen. Für die Klägerin sei es unmöglich oder zumindest übermäßig erschwert gewesen wäre, mit einer innerhalb der Verjährungsfrist von zwei Jahren erhobenen Klage die Erstattung der in den Jahren 1984 bis 1994 gezahlten MwSt zu erwirken.
Hinweis
Die Entscheidung führt die bisherige EuGH-Rechtsprechung fort. Der EuGH hatte eine vergleichbare Frage bereits in dem Sinne entschieden, dass unterschiedliche Verjährungs- oder Klagefristen für zivilrechtliche Ansprüche einerseits und steuerrechtliche Ansprüche andererseits nach dem Unionsrecht grundsätzlich zulässig sind. Nach seiner Rechtsprechung stellt der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zu erstatten (vgl. EuGH v. 28.1.2010, C-264/08, Direct Parcel Distribution Belgium und die dort angeführte Rechtsprechung). Auch hatte der EuGH bereits entschieden, dass der Grundsatz der Effektivität nicht verletzt ist, wenn für die Finanzverwaltung eine angeblich günstigere nationale Verjährungsfrist gilt als für den Einzelnen. Eine nationale Behörde kann sich aber dann nicht auf den Ablauf...