Leitsatz

Auch nach der Neugestaltung des Berufungsverfahrens durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG) vom 27. Juli 2001 ist das Abstehen im Urkundenprozess zulässig, wenn der Beklagte einwilligt oder das Gericht es für sachdienlich erachtet.

(amtlicher Leitsatz des BGH)

 

Normenkette

ZPO §§ 263, 533, 596

 

Kommentar

Der Vermieter nahm den Mieter im Urkundenprozess auf Zahlung rückständiger und künftiger Mieten in Anspruch. Der Mieter hat die Zulässigkeit des Urkundenprozesses gerügt und eingewandt, dass die Miete wegen umfangreicher Mängel gemindert sei. Das Landgericht gab der Klage statt, wobei dem Mieter die Ausführung seiner Rechte im Nachverfahren vorbehalten blieb. Gegen dieses Urteil legte der Mieter Berufung ein. Im Berufungsverfahren erklärte der Vermieter, dass er vom Urkundenprozess Abstand nehme. Dem hat der Mieter widersprochen. Das Oberlandesgericht wies die Klage ab. Es hat die Ansicht vertreten, der Kläger könne im Berufungsverfahren nicht mehr vom Urkundenprozess Abstand nehmen. Er habe allerdings die Möglichkeit zu beantragen, dass das Vorbehaltsurteil aufgehoben und der Rechtsstreit an die erste Instanz zurückverwiesen werde. Einen solchen Antrag habe der Kläger aber nicht gestellt; dies habe zur Folge, dass die Klage als im Urkundenprozess unstatthaft abzuweisen sei.

Der BGH hat das Urteil aufgehoben.

1. Erklärung der Abstandnahme bis zur mündlichen Verhandlung

Nach § 592 ZPO kann ein Anspruch, welcher die Zahlung einer bestimmten Geldsumme zum Gegenstand hat, im Urkundenprozess geltend gemacht werden, wenn die sämtlichen zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen durch Urkunden bewiesen werden können. Stellt sich im Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens heraus, dass ein Urkundenbeweis nicht möglich ist, kann der Kläger gem. § 596 ZPO bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung von dieser Verfahrensart Abstand nehmen. Der Einwilligung des Beklagten bedarf es nicht.

Die Erklärung der Abstandnahme hat zur Folge, dass der Rechtsstreit im ordentlichen Verfahren anhängig bleibt und ohne die Beschränkungen des § 592 ZPO fortgeführt wird. Die Erklärung ist nicht widerruflich; eine Rückkehr zum Urkundenprozess ist ausgeschlossen.

2. Voraussetzungen der Abstandnahme in Berufungsinstanz

In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob und unter welchen Voraussetzungen der Kläger auch in der Berufungsinstanz vom Urkundenprozess Abstand nehmen kann.

  1. Nach einer Ansicht ist dies ohne Beschränkung möglich; es gilt dasselbe wie im erstinstanzlichen Verfahren. Der Prozess wird ohne die Beschränkungen des § 592 ZPO in der Berufungsinstanz fortgeführt (Musielak/Voit, § 596 ZPO Rdn. 7).
  2. Nach anderer Meinung ist die Abstandnahme in der Berufungsinstanz grundsätzlich unzulässig (OLG Hamm, Urteil v. 4.2.2010, 27 U 14/09, GWR 2010 S. 293).
  3. Nach einer dritten Meinung ist eine Abstandnahme zwar möglich. Jedoch kann der Prozess nicht in der Berufungsinstanz fortgesetzt werden. Der Kläger muss analog § 538 Abs. 2 Nr. 5 ZPO beantragen, dass der Rechtsstreit an das Gericht der ersten Instanz zurückverwiesen wird. Dort wird das Verfahren ohne die Beschränkungen des § 592 ZPO fortgeführt (MünchKomm/Braun, § 596 ZPO Rdn. 3).
  4. Nach der Rechtsprechung des BGH zum früheren Zivilprozessrecht war eine Abstandnahme möglich, wenn die Voraussetzungen einer Klageänderung (§ 263 ZPO) vorliegen (BGH, Urteil v. 19.10.1999, XI ZR 308/98, NJW 2000 S. 143). Die Klageänderung setzt voraus, dass der Beklagte einwilligt oder das Gericht sie für sachdienlich erachtet.

3. Sachdienlichkeit der Abstandnahme

In der vorliegenden Entscheidung stellt der BGH klar, dass diese Rechtslage fortbesteht. Da der Mieter der Abstandnahme widersprochen hat, kam es darauf an, ob die Abstandnahme sachdienlich ist. Das Berufungsgericht hat dies mit der Erwägung verneint, dass bei Fortführung des Verfahrens in der zweiten Instanz im Wege einer umfangreichen Beweisaufnahme ein umfangreicher Prozessstoff zu prüfen sei, der in der ersten Instanz noch keine Rolle gespielt habe. Diese Begründung erachtet der BGH für fehlerhaft. Die Notwendigkeit einer Beweisaufnahme sei kein sachlicher Grund, um die Sachdienlichkeit zu verneinen. Maßgeblich sei allein, dass der Vortrag des Mieters zu den Mängeln bereits in der ersten Instanz angefallen ist.

 

Link zur Entscheidung

BGH, Urteil v. 13.4.2011, XII ZR 110/09, NJW 2011 S. 2796

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