Leitsatz

Das Abstehen vom Urkundenprozess ist in der Berufungsinstanz wie eine Klageänderung zu behandeln und daher zulässig, wenn der Beklagte einwilligt oder das Gericht es für sachdienlich erachtet (Anschluss an BGH, Urteil v. 13.4.2011, XII ZR 110/09, BGHZ 189 S. 182 Rn. 24 ff.).

(amtlicher Leitsatz des BGH)

Eine Klageänderung ist sachdienlich, wenn die Zulassung der geänderten Klage den Streit im Rahmen des anhängigen Rechtsstreits ausräumt, sodass sich ein weiterer Prozess vermeiden lässt. Demgegenüber ist eine Klageänderung nicht sachdienlich, wenn ein völlig neuer Streitstoff zur Beurteilung und Entscheidung gestellt wird, ohne dass das Ergebnis der bisherigen Prozessführung verwertet werden kann.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Normenkette

ZPO §§ 533, 596

 

Kommentar

Der Mieter zeigt dem Vermieter Mitte 2007 an, dass sich in der Wohnung Schimmel gebildet hat; er vertritt die Ansicht, dass dies auf einen Baumangel zurückzuführen sei. Aus diesem Grund mindert er in der Folgezeit die Miete. Der Vermieter macht die rückständige Miete im Urkundenprozess geltend. Parallel zu der Zahlungsklage ist zwischen den Parteien ein selbstständiges Beweisverfahren anhängig, durch das die Ursache der Schimmelbildung geklärt werden sollte.

Das Amtsgericht weist die Klage als im Urkundenprozess unstatthaft ab. Gegen diese Entscheidung legt der Vermieter Berufung ein. In diesem Verfahren legt der Vermieter ein zwischenzeitlich im Beweisverfahren erstattetes Gutachten über die Mangelursache vor und erklärt, dass er vom Urkundsverfahren Abstand nehme. Dem widerspricht der Mieter. Das Landgericht führt aus, dass die (erst) in Berufung erklärte Abstandnahme unzulässig sei. Der Rechtsstreit sei mithin weiterhin im Urkundsverfahren anhängig; dieser sei aber nicht statthaft.

Der BGH hat das Urteil aufgehoben:

1. Unwiderrufliche Abstandnahme in 1. Instanz

Nach § 592 ZPO kann ein Anspruch, welcher die Zahlung einer bestimmten Geldsumme zum Gegenstand hat, im Urkundenprozess geltend gemacht werden, wenn die sämtliche zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen durch Urkunden bewiesen werden können. Stellt sich im Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens heraus, dass ein Urkundenbeweis nicht möglich ist, so kann der Kläger gem. § 596 ZPO bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung von dieser Verfahrensart Abstand nehmen. Der Einwilligung des Beklagten bedarf es nicht.

Die Erklärung der Abstandnahme hat zur Folge, dass der Rechtsstreit im ordentlichen Verfahren anhängig bleibt und ohne die Beschränkungen des § 592 ZPO fortgeführt wird. Die Erklärung ist nicht widerruflich; eine Rückkehr zum Urkundenprozess ist ausgeschlossen.

2. Abstandnahme in Berufungsinstanz zulässig

In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob und unter welchen Voraussetzungen der Kläger auch in der Berufungsinstanz vom Urkundenprozess Abstand nehmen kann.

Nach der Rechtsprechung des für die Gewerbemiete zuständigen XII. Zivilsenats des BGH ist eine Abstandnahme möglich, wenn die Voraussetzungen einer Klageänderung (§ 263 ZPO) vorliegen (BGH, Urteil v. 13.4.2011, XII ZR 110/09, NJW 2011 S. 2796). Die Klageänderung setzt voraus, dass der Beklagte einwilligt oder das Gericht sie für sachdienlich erachtet.

Dieser Rechtsprechung schließt sich der für die Wohnraummiete zuständige VIII. Zivilsenat an.

3. Sachdienliche Abstandnahme

Da der Mieter der Abstandnahme widersprochen hat, kam es darauf an, ob die Abstandnahme sachdienlich ist. Das Berufungsgericht hat dies mit der Erwägung verneint, dass bei Fortführung des Verfahrens in der zweiten Instanz im Wege einer umfangreichen Beweisaufnahme ein umfangreicher Prozessstoff zu prüfen sei, der in der ersten Instanz noch keine Rolle gespielt habe.

Diese Begründung erachtet der BGH für fehlerhaft. Die Frage der Sachdienlichkeit sei auf der Grundlage der wechselseitigen Interessen der Parteien zu entscheiden. Die Notwendigkeit einer Beweisaufnahme sei für sich allein kein sachlicher Grund, um die Sachdienlichkeit zu verneinen. Vielmehr ist wie folgt abzugrenzen: Eine Klageänderung ist sachdienlich, wenn "die Zulassung der geänderten Klage den Streit im Rahmen des anhängigen Rechtsstreits ausräumt, sodass sich ein weiterer Prozess vermeiden lässt". Demgegenüber ist eine Klageänderung nicht sachdienlich, "wenn ein völlig neuer Streitstoff zur Beurteilung und Entscheidung gestellt wird, ohne dass das Ergebnis der bisherigen Prozessführung verwertet werden kann".

Hier war die Mangelursache bereits in der ersten Instanz streitig. Daraus folgt, dass mit der Vorlage des Gutachtens aus dem Beweisverfahren kein völlig neuer Prozessstoff in das Berufungsverfahren eingeführt wurde. Die Abstandnahme vom Urkundenprozess war damit zulässig.

 

Link zur Entscheidung

BGH, Urteil v. 4.7.2012, VIII ZR 109/11, NJW 2012 S. 2662

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