Leitsatz
Art. 8 Buchst. a der Zweiten Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11.4.1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist dahin auszulegen, dass er einem Steuerpflichtigen nicht das Recht einräumt, die Besteuerungsgrundlage für eine Lieferung von Gegenständen als rückwirkend vermindert zu behandeln, wenn ein Vertreter nach dem Zeitpunkt dieser Lieferung von Gegenständen eine Gutschrift des Lieferers erhalten hat, die er nach seiner Wahl entweder als Geldzahlung oder als Gutschrift auf dem Lieferer geschuldete Beträge für bereits erfolgte Lieferungen von Gegenständen abgerufen hat.
Normenkette
Art. 8 Buchst. a EWGRL 228/67
Sachverhalt
Grattan (G), ein Versandhandel, vertrieb seine Waren durch Vermittlung von Vertretern (V) an Endkunden (K). Der Vertreter übermittelte die Bestellungen der Kunden; über V wurde die Ware ausgeliefert und dieser übernahm die Einziehung und Weiterleitung der Zahlungen der Kunden an G. V erhielt eine Provision, die z.T. per Scheck ("bar") ausbezahlt wurde, ihm z.T. aber auch auf einem Warenkonto des V für den Bezug von Waren für sich selbst oder auf einem Verrechnungskonto für die über ihn als Vermittler abgewickelten Warenbezüge der Endkunden gutgeschrieben wurde. G meinte, auch die "in bar" (Scheck) ausgezahlte Provision für die vermittelten Verkäufe an die Kunden mindere ihr (Gs) Entgelt für die Warenlieferungen an die Endkunden.
Entscheidung
Der EuGH stellt in dem von einem englischen Gericht vorgelegten Sachverhalt darauf ab, dass die 2. EG-RL keine Herabsetzung vorsah und die Kunden an G – wenn auch über V abgewickelt – das volle Entgelt gezahlt haben. Hat der Vertreter einen Provisionsanspruch in bestimmter Höhe, macht es keinen Unterschied, ob er die Provision in bar ausbezahlt erhält oder ob er sie z.B. zur Verrechnung mit dem Entgelt für eigene Warenkäufe bei seinem Geschäftsherrn verwendet oder diese auf sein, die Geschäftsbeziehungen zu seinem Geschäftsherrn betreffendes Konto, überwiesen wird. Maßgeblich ist stets die Zuordnung der Zahlung zu einem konkreten Leistungsverhältnis. Bei einer Provisionszahlung ist es das Verhältnis zwischen Geschäftsherrn und Vertreter, der für seine Leistungen eine Provision erhält.
Hinweis
1. Der Fall spielt ab 1973 in England – das sich durch besonderen Erfindungsreichtum in Sachen Direktmarketing auszeichnet – und betrifft noch die Zweite Richtlinie, die – anders als die späteren Richtlinien – keine Regelung wie Art. 11 Teil C Abs. 1 der 6. EG-RL enthielt, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Bedingungen festzulegen, unter denen die Besteuerungsgrundlage nachträglich vermindert wird. Art. 11 Teil C Abs. 1 der 6. EG-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten grundsätzlich dazu, die Besteuerungsgrundlage zu vermindern, "wenn der Steuerpflichtige nach Bewirkung eines Umsatzes die gesamte Gegenleistung oder einen Teil davon nicht erhält". Auch wenn die 2. EG-RL keine Regelung zur Minderung der Bemessungsgrundlage enthielt, sind die Grundsätze auch für die 6. RL und die MwStSystRL zu beachten. Eine Provision, die ein Händler für die Vermittlung und Abwicklung eines Geschäftes mit seinem Kunden dem Vertreter zahlen muss, mindert grundsätzlich nicht die Bemessungsgrundlage für die Lieferung an den Kunden.
2. Aus dem Neutralitätsgrundsatz folgt insoweit nichts anderes. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität hat mehrere rechtlich relevante Aspekte:
a) Er bedeutet zum einen, dass die Steuerpflichtigen bei gleichartigen und miteinander in Wettbewerb stehenden Leistungen nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen. Weil er jedoch – wie der EuGH ausdrücklich betont – keine Regel des Primärrechts ist, berechtigt dieser Grundsatz daher für sich genommen weder eine (vermeintlich) fehlende Richtlinienregelung zu kompensieren noch erlaubt er, Befreiungsvorschriften der Richtlinie auf dort (noch) nicht ausdrücklich geregelte Sachverhalte zu erweitern.
b) Nach der anderen Bedeutung muss der von der Steuerverwaltung erhobene Mehrwertsteuerbetrag genau dem auf der Rechnung ausgewiesenen und vom Endverbraucher an den Steuerpflichtigen gezahlten Mehrwertsteuerbetrag entsprechen. Eine Provision, die der Leistende, der – auf Vermittlung eines Vertreters – als Lieferer von Waren an den Endkunden an den Vertreter zahlt, deren Verwendung berührt daher nicht das Leistungsverhältnis zwischen Kunde und Leistendem. Das könnte ein Hinweis für die mögliche Antwort des EuGH auf die vom BFH vorgelegte Frage sein, ob die Verwendung der Provision, die ein Vermittler z.B. von einem Hersteller für die Vermittlung von Kunden erhält und als "Rabatt" für den von ihm an den Hersteller, seinen Auftraggeber, vermittelten Kunden verwendet, zu einer Minderung der Bemessungsgrundlage in der Leistungsbeziehung zwischen Hersteller und Kunden führen kann.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 19.12.2012 –C-310/11 – Grattan Pic