Leitsatz
Der Vorsitzende eines gerichtlichen Spruchkörpers kann dann vertreten werden, wenn er vorübergehend verhindert ist. Bei länger andauernder Krankheit ist der Geschäftsverteilungsplan aber zu berichtigen, wenn mit der Wiederherstellung der Dienstfähigkeit in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden kann.
Sachverhalt
Das OLG hatte den Beklagten verurteilt, 70 Mio. DM an die Bundesrepublik zurückzuzahlen, die für Kriegsfolgeschäden erstattet worden war. Der BGH hob das Urteil – ohne in der Sache selbst zu entscheiden – auf, weil der OLG-Senat nicht richtig besetzt war und damit nicht der gesetzliche Richter i.S. von Art. 101 Abs. 1 GG entschieden hatte. Der Vorsitzende des nach dem OLG-Geschäftsverteilungsplan zuständigen Senats war zwischen Juli 2002 und seinem Tod im April 2004 krankheitsbedingt nicht in der Lage, seinen Dienstpflichten nachzukommen, weshalb er in dieser Zeit vertreten wurde.
Entscheidung
Die Vorsitzenden Richter führen nach § 21f Abs. 1 GVG den Vorsitz in den Spruchkörpern bei den OLG. Allein bei Verhinderung des Vorsitzenden führt stellvertretend das nach § 21e Abs. 1 GVG vom Präsidium bestimmte Mitglied des Senats den Vorsitz. Unter Verhinderung im Sinne dieser Vorschrift ist jedoch lediglich eine vorübergehende Abhaltung von der Ausübung des Vorsitzes zu verstehen. Unzulässig ist dagegen die dauernde oder für eine unabsehbare Zeit erfolgende Vertretung des ordentlichen Vorsitzenden. Eine solche dauernde "Verhinderung" erfordert gegebenenfalls eine Berücksichtigung im Geschäftsverteilungsplan des laufenden Geschäftsjahrs.
Für den Fall der Erkrankung gilt, dass eine nur vorübergehende Verhinderung anzunehmen ist, wenn nach menschlicher Voraussicht mit einer baldigen Wiederherstellung der Gesundheit gerechnet werden kann und nach den ärztlichen Auskünften zu erwarten ist, dass der erkrankte Vorsitzende in absehbarer, also nicht zu ferner Zeit seine Dienstgeschäfte wieder aufnehmen kann oder im Zeitpunkt der Feststellung des Vertretungsfalls die Rückkehr des Erkrankten erwartet werden kann. Wegen der Unwägbarkeiten bei Krankheitsverläufen wird eine Erkrankung auch bei längerer Dauer zunächst als vorübergehende Verhinderung angesehen, da das Ende vorausschauend meist nicht feststellbar ist. Wann aus einer vorübergehenden Verhinderung bei längerer Erkrankung eine dauernde Verhinderung wird, ist eine Frage des Einzelfalls, die aber der Nachprüfung des Revisionsgerichts durchaus unterliegt. Dabei ist anhand der konkreten Einzelfallumstände insbesondere zu entscheiden, ob der "ordentliche Vorsitzende" tatsächlich in der Lage ist, einen richtungweisenden Einfluss auf die Rechtsprechung des Spruchköpers auszuüben.
Jedenfalls dann, wenn der geschäftsplanmäßige Vorsitzende – wie hier – während eines ganzen Geschäftsjahrs krankheitsbedingt verhindert ist, muss das Präsidium vor der Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans für das nächste Geschäftsjahr die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um die Frage nach der voraussichtlichen Fortdauer der Verhinderung zu klären. Kann hiernach nicht mit einer Wiederherstellung der Dienstfähigkeit in absehbarer Zeit gerechnet werden, muss dies bei der Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans für das nächste Geschäftsjahr berücksichtigt werden.
Praxishinweis
Die Entscheidung des BGH betrifft auch Verfahren vor den FG. Denn die Vertretungsbestimmung des § 21f GVG gilt über den Verweis in § 4 FGO auch für finanzgerichtliche Streitigkeiten.
Link zur Entscheidung
BGH-Urteil vom 13.9.2005, VI ZR 137/04