Entscheidungsstichwort (Thema)
Spruchkörper. Vorsitz. Vertretung. Verhinderung. Erkrankung. Dienstunfähigkeit. Dauer. Prognose
Leitsatz (amtlich)
a) Verhinderung des Vorsitzenden i.S.d. § 21 f Abs. 2 S. 1 GVG ist nur eine vorübergehende Verhinderung. Unzulässig ist deshalb die dauernde oder für eine unabsehbare Zeit erfolgende Vertretung des ordentlichen Vorsitzenden.
b) Wann aus der vorübergehenden Verhinderung bei längerer Erkrankung eine dauernde wird, ist eine unter Berücksichtigung des Zwecks von § 21 f Abs. 1 GVG zu beantwortende Frage des Einzelfalls. Jedenfalls dann, wenn der ordentliche Vorsitzende über ein ganzes Geschäftsjahr wegen Krankheit dienstunfähig war, hat das Präsidium vor der Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans für das nächste Geschäftsjahr die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu nutzen, um die Frage nach der voraussichtlichen Fortdauer der Verhinderung zu klären. Kann hiernach nicht mit einer Wiederherstellung der Dienstfähigkeit in absehbarer Zeit gerechnet werden, muss das Präsidium von einer dauernden Verhinderung ausgehen und dies bei der Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans für das nächste Geschäftsjahr berücksichtigen.
Normenkette
GVG § 21 f Abs. 1, 2 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 16. Zivilsenats des OLG Frankfurt v. 29.4.2004 aufgehoben, soweit es über die Klage entschieden hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der Gerichtskosten, von deren Erhebung abgesehen wird, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Rückzahlung von 70 Mio. DM, die sie an die Beklagte als Entschädigung für verlorene Aktien auf der Grundlage des Wertpapierbereinigungsschlussgesetzes gezahlt hat. Sie behauptet, die Beklagte habe den der Auszahlung zu Grunde liegenden Beschluss des OLG Stuttgart v. 18.12.1989 durch Täuschung des Gerichts erschlichen.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat ihr auf die Berufung der Klägerin stattgegeben und die Revision zugelassen, mit der die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiterverfolgt. Soweit das Berufungsgericht eine Widerklage abgewiesen hat, nimmt die Beklagte das Urteil hin.
Entscheidungsgründe
1. Die von der Revision erhobene Rüge, das Berufungsgericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 547 Nr. 1 ZPO), hat Erfolg.
a) Vorsitzender des als Berufungsgericht entscheidenden 16. Zivilsenats des OLG Frankfurt war nach dem Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2004 - wie auch schon in den Jahren zuvor - Vorsitzender Richter am OLG B. Als Vertreter des Vorsitzenden war Richter am OLG S. bestimmt. Gemäß Lit. C Ziff. 1 des Geschäftsverteilungsplans richtete sich die Vertretung der Vorsitzenden der Senate nach § 21 f Abs. 2 GVG. B. war seit Juli 2002 bis zu seinem Tod im April 2004 ohne Unterbrechung dienstunfähig erkrankt. Das Präsidium des OLG hatte deshalb dem 16. Zivilsenat mit Wirkung v. 5.6.2003 eine Richterin mit halber Arbeitskraft zugewiesen. Der Änderungsbeschluss zur Geschäftsverteilung des OLG für das Geschäftsjahr 2003v. 5.6.2003 stellte hierzu einleitend fest: "Vorsitzender Richter am OLG B. ist noch immer auf unabsehbare Zeit erkrankt, so dass sich die Notwendigkeit der Vertretung im Vorsitz des Senats durch Richter am OLG S. auch weiterhin stellt". Auf Anfrage des Prozessbevollmächtigten der Beklagten antwortete die Präsidentin des OLG mit Schreiben v. 1.9.2004, dass sich aus den beigezogenen Personalakten des Vorsitzenden Richters am OLG B. nichts Näheres über Art und Verlauf seiner Erkrankung ergebe. Die Dienstunfähigkeitsanzeigen und -atteste enthielten keine näheren Informationen. Auch dem Präsidium sei nur bekannt gewesen, dass B. wegen einer schweren Krankheit auf unabsehbare Zeit dienstunfähig gewesen sei. In zwei weiteren Schreiben teilte die Präsidentin des OLG mit, soweit dies möglich gewesen sei, seien Informationen über den Gesundheitszustand von Herrn B. eingeholt und an das Präsidium weitergegeben worden. Lange Zeit habe Hoffnung auf eine Besserung des Krankheitsbildes bestanden. Weiteres hat sie dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten nicht bekannt gegeben. Die vom erk. Senat eingeholte amtliche Auskunft der Präsidentin des OLG v. 31.5.2005 enthält gleichfalls keine näheren Angaben zur Krankheit des B. oder deren Verlauf. Auf das Schreiben v. 31.5.2005 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
b) Die Aufgaben des Vorsitzenden des 16. Zivilsenats des OLG sind nach dem Vortrag der Parteien und der Auskunft der Präsidentin des OLG über einen Zeitraum von deutlich mehr als einem Geschäftsjahr (Juli 2002 bis April 2004) durch den geschäftsplanmäßig bestellten Vertreter wahrgenommen worden. Im Zeitpunkt der maßgeblichen, dem angefochtenen Urteil zu Grunde liegenden mündlichen Verhandlung v. 11.3.2004 war das Berufungsgericht ohne ordentlichen Vorsitzenden.
aa) Gemäß § 21 f Abs. 1 GVG führen den Vorsitz in den Spruchkörpern bei den OLG neben den Präsidenten die Vorsitzenden Richter. Ausschließlich bei Verhinderung des Vorsitzenden führt stellvertretend nach § 21 f Abs. 2 S. 1 GVG das vom Präsidium bestimmte Mitglied des Spruchkörpers den Vorsitz. Unter Verhinderung im Sinne dieser Vorschrift ist jedoch lediglich eine vorübergehende Abhaltung von der Ausübung des Vorsitzes zu verstehen. Unzulässig ist demgegenüber die dauernde oder für eine unabsehbare Zeit erfolgende Vertretung des ordentlichen Vorsitzenden (st.Rspr. vgl.: BGHZ 16, 254 [256]; BGHZ 37, 210 [214]; BGH v. 11.7.1985 - VII ZB 6/85, BGHZ 95, 246 f. = MDR 1985, 1017; BGHSt 21, 131 [133]; Urt. v. 13.12.1960 - 5 StR 488/60, Umdr. S. 4; Urt. v. 28.5.1974 - 4 StR 37/74, NJW 1974, 1572 [1573]; Urt. v. 27.9.1988 - 1 StR 187/88, MDR 1989, 86 = NJW 1989, 843 [844]; BFH v. 7.12.1988 - I R 15/85, BFHE 155, 470 [471]; BVerwG, Urt. v. 25.7.1985 - 3 C 4/85, NJW 1986, 1366 [1367]; Beschl. v. 11.7.2001 - 1 DB 20/01, NJW 2001, 3493 [3494]; vgl. bereits: RGZ 119, 280 [282 f.]; ebenso: Kissel/Mayer, GVG, 4. Aufl., § 59 Rz. 7; Wolf in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl., § 59 GVG Rz. 9; Zöller/Gummer, ZPO, 25. Aufl., § 21 f GVG Rz. 5, § 21e GVG Rz. 39). Eine solche dauernde "Verhinderung" erfordert ggf. eine Berücksichtigung im Geschäftsverteilungsplan des laufenden Geschäftsjahrs (vgl. § 21e Abs. 3 S. 1 GVG).
bb) In der Rechtsprechung des BGH besteht Einigkeit darüber, dass die Frage, ob die Verhinderung des Vorsitzenden vorübergehend oder dauernd ist, nicht losgelöst von dem Grund der Verhinderung beantwortet werden kann. Für den Fall der Erkrankung gilt, dass eine nur vorübergehende Verhinderung anzunehmen ist, wenn nach menschlicher Voraussicht mit einer baldigen Wiederherstellung der Gesundheit gerechnet werden kann (BGHZ 16, 254 [256]; Kissel/Mayer, GVG, 4. Aufl., § 59 Rz. 7; Zöller/Gummer, ZPO, 25. Aufl., § 21e GVG Rz. 39a), nach den ärztlichen Auskünften zu erwarten ist, dass der erkrankte Vorsitzende in absehbarer, nicht zu ferner Zeit seine Dienstgeschäfte wieder aufnehmen kann (BGH, Urt. v. 13.12.1960 - 5 StR 488/60, Umdr. S. 5) oder im Zeitpunkt der Feststellung des Vertretungsfalls die Rückkehr des Erkrankten erwartet werden konnte (BGH, Urt. v. 27.9.1988 - 1 StR 187/88, MDR 1989, 86 = NJW 1989, 843 [844]; Wolf in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl., § 21 f GVG Rz. 4; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl., § 551 Rz. 4). Allerdings wird bei einer Erkrankung eine gewisse Unsicherheit über die Dauer der Verhinderung hinzunehmen sein, weil der Verlauf und die Dauer einer Krankheit nur in beschränktem Umfang durch ärztliche oder sonstige menschliche Maßnahmen beeinflusst werden können und weil keine Gefahr besteht, dass die Dauer der Verhinderung von menschlichen Entscheidungen abhängig gemacht wird, die die Belange der Rechtspflege nicht genügend berücksichtigen (BGHZ 16, 254 [256]; BGH, Urt. v. 13.12.1960 - 5 StR 488/60, Umdr. S. 4 f.; Urt. v. 27.9.1988 - 1 StR 187/88, MDR 1989, 86 = NJW 1989, 843 [844]; Kissel/Mayer, GVG, 4. Aufl., § 59 Rz. 7; Löwe-Rosenberg/Breidling, StPO, 25. Aufl., § 21 f GVG Rz. 25). Deshalb wird eine Erkrankung auch bei längerer Dauer zunächst als vorübergehende Verhinderung angesehen, da das Ende vorausschauend meist nicht, insb. i.d.R. nicht für den für etwaige Maßnahmen zuständigen Dienstvorgesetzten feststellbar ist (BGH BGHSt 21, 131 [133]; Urt. v. 28.5.1974 - 4 StR 37/74, NJW 1974, 1572 [1573]; Urt. v. 27.9.1988 - 1 StR 187/88, MDR 1989, 86 = NJW 1989, 843 [844]; Löwe-Rosenberg/Breidling, StPO, 25. Aufl., § 21 f GVG Rz. 25; Zöller/Gummer, ZPO, 25. Aufl., § 21e GVG Rz. 39a).
cc) Wann aus einer vorübergehenden Verhinderung bei längerer Erkrankung eine dauernde Verhinderung wird, ist eine unter Berücksichtigung des Zwecks von § 21 f Abs. 1 GVG zu beantwortende Frage des Einzelfalls. Der Begriff der dauernden oder vorübergehenden Verhinderung ist zwar rechtlicher Natur und unterliegt daher der Nachprüfung des Revisionsgerichts. Es hängt jedoch immer von der Würdigung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls ab, ob dieser Rechtsbegriff ausgefüllt ist (BGH, Urt. v. 13.12.1960 - 5 StR 488/60). Das BVerwG hat einen Fall dauernder Verhinderung bejaht, wenn bei länger dauernder Erkrankung des ordentlichen Vorsitzenden eines Spruchkörpers abzusehen ist, dass dieser den Vorsitz nicht wieder übernehmen werden wird, und seine demnächst zu erwartende dauernde Verhinderung durch seinen Antrag auf Versetzung in den Ruhestand bestätigt wird (BVerwG, Urt. v. 25.7.1985 - 3 C 4/85, NJW 1986, 1366 [1367]; Zöller/Gummer, ZPO, 25. Aufl., § 21e GVG Rz. 39b). Häufig werden dem Präsidium solche konkreten Anhaltspunkte für eine Beurteilung zunächst nicht zur Verfügung stehen. Auch bei schweren längeren Krankheiten wird es oft so sein, dass als Information über Art und Dauer der Erkrankung lediglich jeweils für einzelne Zeitabschnitte geltende Dienstunfähigkeitsbescheinigungen und Atteste vorgelegt werden, die keine Angaben über die Art der Erkrankung enthalten und über deren Dauer eine gesicherte Prognose nicht zulassen. Es liegt indes auf der Hand, dass in einem solchen Fall die Frage, ob und wann die vorübergehende Verhinderung in eine dauernde übergeht, nicht unbegrenzte Zeit in der Schwebe bleiben kann (Löwe-Rosenberg/Breidling, StPO, 25. Aufl., § 21 f GVG Rz. 19). Dies würde Sinn und Zweck des § 21 f Abs. 1 GVG, im Rahmen des Möglichen eine zusätzliche Gewähr für die Güte und Stetigkeit der Rechtsprechung innerhalb der Spruchkörper zu schaffen, widersprechen. Hierfür ist es erforderlich, dass der ordentliche Vorsitzende auch tatsächlich in der Lage ist, einen richtunggebenden Einfluss auf die Rechtsprechung des Spruchkörpers auszuüben, insb. die Kontinuität der Rechtsprechung zu gewährleisten (BGHZ 37, 210 ff.). Maßgebend ist daher i.d.R., ob im Fall einer Erkrankung des Vorsitzenden nach menschlicher Voraussicht in absehbarer Zeit mit der Wiederherstellung der Gesundheit gerechnet werden kann (BGHZ 16, 256; BGH, Urt. v. 13.12.1960 - 5 StR 488/60). Auf die Klärung dieser Frage wird das Präsidium erforderlichenfalls bei längerer Dauer der Erkrankung vor einer Beschlussfassung hinzuwirken haben.
2. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem OLG lag nach diesen Grundsätzen ein Fall zulässiger Vertretung nicht vor, wobei der Sachverhalt nicht zu einer abschließenden Entscheidung nötigt, ob und wann das Präsidium bei längerer Krankheit mit nicht prognostizierbarem Ende bereits während des laufenden Geschäftsjahrs Maßnahmen nach § 21e Abs. 3 GVG ergreifen und einen anderen ständigen Vorsitzenden bestellen muss (BGH v. 11.7.1985 - VII ZB 6/85, BGHZ 95, 246 f. = MDR 1985, 1017; Urt. v. 27.9.1988 - 1 StR 187/88, MDR 1989, 86 = NJW 1989, 843 [844]; KK-StPO/Diemer, 5. Aufl., § 21 f GVG Rz. 3; Kissel/Mayer, GVG, 4. Aufl., § 21 f Rz. 2, § 59 Rz. 7; Löwe-Rosenberg/Breidling, StPO, 25. Aufl., § 21e GVG Rz. 16, § 21 f GVG Rz. 19; Wolf in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl., § 21 f GVG Rz. 4, 6; Zöller/Gummer, ZPO, 25. Aufl., § 21 f GVG Rz. 5). Jedenfalls dann, wenn der geschäftsplanmäßige Vorsitzende - wie hier - während eines ganzen Geschäftsjahrs krankheitsbedingt verhindert war, muss das Präsidium vor der Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans für das nächste Geschäftsjahr die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um die Frage nach der voraussichtlichen Fortdauer der Verhinderung zu klären (BGHZ 16, 254 [258 f.]; BGH, Urt. v. 13.12.1960 - 5 StR 488/60, Umdr. S. 4 [6]). Kann hiernach nicht mit einer Wiederherstellung der Dienstfähigkeit in absehbarer Zeit gerechnet werden, muss das Präsidium in einem solchen Fall von einer dauernden Verhinderung ausgehen und dies bei der Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans für das nächste Geschäftsjahr berücksichtigen (BVerwG, Urt. v. 25.7.1985 - 3 C 4/85, NJW 1986, 1366 [1367]).
Das Präsidium ist im hier zu entscheidenden Fall im Beschluss über den Geschäftsverteilungsplan 2003 ohne erkennbare Anhaltspunkte etwa in ärztlichen Auskünften zunächst von einer nur vorübergehenden Verhinderung des Vorsitzenden Richters B. ausgegangen, obwohl dieser bei der Beschlussfassung schon seit Juli 2002 dienstunfähig war. In seinem Beschluss v. 5.6.2003 ist es dann wiederum ohne nachvollziehbare Kenntnisse über die Erkrankung und ihre voraussichtliche Dauer im Einzelfall von einer "immer noch" gegebenen Verhinderung "auf unabsehbare Zeit" ausgegangen. Bei Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans für das Jahr 2004 am 17.12.2003 schließlich war B. bereits seit etwa eineinhalb Jahren wegen Krankheit dienstunfähig. Nach der vom erkennenden Senat eingeholten amtlichen Auskunft der Präsidentin des OLG, welche den Vortrag der Beklagten bestätigt, waren dem Präsidium des OLG auch bei dieser Beschlussfassung keine tatsächlichen Umstände der Erkrankung bekannt, nach denen in absehbarer Zeit mit einer Wiederaufnahme der Dienstgeschäfte durch B. zu rechnen gewesen wäre. Dass B. im April 2004 verstarb, weist im Gegenteil darauf hin, dass mit einer alsbaldigen Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit zum damaligen Zeitpunkt nicht zu rechnen war. Das Präsidium hat B. dennoch erneut zum Vorsitzenden des 16. Zivilsenats auch für das Geschäftsjahr 2004 bestimmt, obwohl er nach den erwähnten Grundsätzen der Rechtsprechung dauernd verhindert war. Hiernach war der 16. Zivilsenat des OLG Frankfurt bei der Entscheidung über die Berufung der Klägerin nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 Nr. 1 ZPO, § 21 f Abs. 1 GVG).
Das Berufungsurteil ist daher ohne Sachprüfung im Umfang der Anfechtung aufzuheben (§ 562 Abs. 2 ZPO).
3. Die Parteien werden Gelegenheit haben, in der neu eröffneten Berufungsverhandlung dem Berufungsgericht ihre im Revisionsverfahren vorgebrachten Einwände erneut vorzutragen. Im Hinblick auf die vom Berufungsgericht zur Begründung der Revisionszulassung aufgeworfenen Rechtsfragen weist der erk. Senat jedoch für den Fall, dass das Berufungsgericht erneut zu einer Haftung der Beklagten gelangen sollte, vorsorglich auf Folgendes hin:
a) Nach ständiger Rechtsprechung des BGH kann demjenigen, der einen Vermögensschaden erlitten hat, weil ein anderer unter Irreführung des Gerichts arglistig eine unrichtige Entscheidung gegen ihn erschlichen hat, ungeachtet deren Rechtskraft unter strengen Voraussetzungen ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 826 BGB zustehen. Die Rechtskraft muss dann zurücktreten, wenn ihre Ausnutzung mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre (BGH, Urt. v. 15.12.1964 - VI ZR 214/63, WM 1965, 277 [278]; Urt. v. 15.11.1994 - VI ZR 2/94, MDR 1995, 630 = VersR 1995, 228 [229]; ebenso: BGHZ 40, 130 [132 f.]; BGHZ 50, 115 [117]; BGHZ 101, 380 [383 f.] = MDR 1988, 126; für das Wertpapierbereinigungsverfahren vgl.: BGH, Urt. v. 27.6.1968 - II ZR 29/67, WM 1968, 969 [970]).
Dieser Schadensersatzanspruch kann ggü. rechtskräftigen Zivilurteilen, aber auch ggü. Urteilen der ArbG und SG geltend gemacht werden (BSG v. 26.9.1986 - 2 RU 45/85, BSGE 60, 251 [253], m.w.N.; BAGE 10, 88 [98 f.]; Walker in 50 Jahre BGH, Band III, S. 367 [373]; zur Anwendung auf andere der Rechtskraft fähige Titel vgl. die Nachweise bei: Wagner in MünchKomm/BGB, 4. Aufl., § 826 Rz. 137; Soergel/Hönn/Dönneweg, BGB, 12. Aufl., § 826 Rz. 238 f.; Staudinger/Oechsler, BGB, 13. Bearbeitung, § 826 Rz. 541 f.). Gründe dafür, dass anderes zu gelten hätte, wenn sich der Anspruch aus § 826 BGB - wie im Streitfall - gegen ein Urteil richtet, das ein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren abschließt, sind nicht ersichtlich. Die neue Hauptsacheentscheidung tritt an die Stelle der aufgehobenen. Für ihre Rechtskraft gelten die allgemeinen Regeln (Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl., § 590 Rz. 10, 12; Zöller/Gummer, ZPO, 25. Aufl., vor § 578 Rz. 26). Zudem hat der Schadensersatzanspruch seine Grundlage, auch soweit damit die Rechtskraftwirkung einer gerichtlichen Entscheidung überwunden werden soll, im materiellen Recht. Die auf § 826 BGB gestützte Klage stellt (im Gegensatz etwa zur Restitutionsklage des Wiederaufnahmeverfahrens) den Bestand der gerichtlichen Entscheidung nicht in Frage. Sie ist vielmehr darauf gerichtet, die hierdurch verursachte Einbuße im Wege des Schadensersatzes auszugleichen, wobei zur Erreichung dieses Zweckes die (materielle) Rechtskraft der Entscheidung zurücktreten muss. Die Klage aus § 826 BGB ist daher kein "außerordentlicher Rechtsbehelf" gegen eine gerichtliche Entscheidung, sondern die Anwendung materiellen Zivilrechts (BGH, Urt. v. 15.11.1994 - VI ZR 2/94, MDR 1995, 630 = VersR 1995, 228 [230]; vgl. auch: BGHZ 50, 115 [118], m.w.N.; RGZ 46, 75 [79 f.]). Dessen Anwendung ist unabhängig von dem prozessualen Verfahren, in dem das Urteil gefällt wird, dessen Rechtskraft durchbrochen werden soll.
b) Der erk. Senat hat auch keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass im Vorprozess im Rahmen einer Schriftvergleichung als echt berücksichtigte Vergleichsunterschriften auf Grund der im Schadensersatzprozess aufgestellten Behauptung ihrer Verfälschung erneut auf ihre Echtheit hin überprüft werden, sofern hierfür nach Lage des Falles Veranlassung besteht.
aa) Das Gericht des Schadensersatzprozesses gem. § 826 BGB ist grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, im Vorprozess getroffene Feststellungen nachzuprüfen. Hierbei darf es auch die Echtheit oder Unechtheit einer Urkunde abweichend beurteilen. Die Revision weist zwar zu Recht auf die besonderen Anforderungen an die Darlegungslast des Klägers bei einer Klage auf Schadensersatz wegen sittenwidriger vorsätzlicher Erschleichung eines rechtskräftigen Urteils hin (BGHZ 40, 130 [133 f.]; BGHZ 50, 115 [122 f.]; BGH, Urt. v. 19.6.1964 - V ZR 37/63, NJW 1964, 1672 [1673]; Urt. v. 23.1.1974 - VIII ZR 131/72, NJW 1974, 557; Baumgärtel/Strieder, Handbuch der Beweislast, 2. Aufl., § 826 Rz. 8 f.; Wagner in MünchKomm/BGB, 4. Aufl., § 826 Rz. 130; Gottwald in MünchKomm/ZPO, § 322 Rz. 215; Staudinger/Oechsler, BGB, 13. Bearbeitung, § 826 Rz. 492). Die Anwendung des § 826 BGB auf rechtskräftige Titel muss auf besonders schwer wiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben, weil jede Ausdehnung das Institut der Rechtskraft aushöhlen, die Rechtssicherheit beeinträchtigen und den Eintritt des Rechtsfriedens in untragbarer Weise in Frage stellen würde (BGH v. 22.12.1987 - VI ZR 165/87, BGHZ 103, 44 [46] = MDR 1988, 398; v. 24.9.1987 - III ZR 187/86, BGHZ 101, 380 [383 f.] = MDR 1988, 126, m.w.N.; v. 3.7.1990 - XI ZR 302/89, BGHZ 112, 54 [58] = MDR 1991, 148). Andernfalls würde ein Anreiz geschaffen, rechtskräftig entschiedene Prozesse im Wege einer Klage auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung und Herausgabe des Titels neu aufzurollen (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BGH v. 22.12.1987 - VI ZR 165/87, BGHZ 103, 44 [50] = MDR 1988, 398; BGHZ 40, 130 [134 f.]; v. 3.7.1990 - XI ZR 302/89, BGHZ 112, 54 [58] = MDR 1991, 148; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 322 Rz. 273). Ist der Kläger indes seiner Darlegungslast nachgekommen, steht der Weg für eine Überprüfung der Feststellungen des Vorprozesses durch das Gericht des Schadensersatzprozesses offen. Denn das Gericht hat im Falle der sittenwidrigen Herbeiführung des Titels u.a. zu prüfen, ob das Urteil im Vorprozess auf einer wahrheitswidrigen Sachverhaltsschilderung oder verfälschten Beweismitteln und hier insb. auf verfälschten Urkunden beruht (BGH, Urt. v. 30.9.1969 - VI ZR 54/68 - VersR 1969, 1045 f.; RG HRR 1935 Nr. 665; BGB-RGRK/Steffen, 12. Aufl. 1989, § 826 Rz. 76, m.w.N.; Soergel/Hönn/Dönneweg, BGB, 12. Aufl., § 826 Rz. 118; Wagner in MünchKomm/BGB, Rz. 131; Gottwald in MünchKomm/ZPO, § 322 Rz. 213; Braun in MünchKomm/ZPO, vor § 578 Rz. 12; Staudinger/Oechsler, BGB, 13. Bearb., § 826 Rz. 498). Zu diesem Zweck dürfen und müssen die den Feststellungen des Vorprozesses zu Grunde liegenden Beweismittel und Beweisergebnisse neu gewürdigt werden. So kann etwa die Aussage eines Zeugen, auf die sich das Gericht des Vorprozesses gestützt hat, nunmehr als falsch gewertet werden. Urkunden, die im Vorprozess als Original vorgelegt und behandelt wurden, dürfen als im Beweiswert erheblich geminderte Abschriften oder Rekonstruktionen erkannt werden. Eine im Vorprozess beweiserhebliche Urkunde kann auf ihre Richtigkeit hin überprüft und ihre Verfälschung festgestellt werden (BGHZ 50, 115 [124]; Urt. v. 20.3.1957 - , LM Nr. 7 zu § 826 (Fa) BGB; v. 27.6.1968 - II ZR 29/67, WM 1968, 969 [971]; RGZ 46, 75 [79]; BSG v. 26.9.1986 - 2 RU 45/85, BSGE 60, 251 [256 f.]; vgl. ferner BAG, Urt. v. 27.1.1970 - 1 AZR 198/69, AP Nr. 14 zu § 826 BGB).
bb) Der Überprüfung der Vergleichsunterschriften steht auch nicht die Geständnisfiktion der §§ 439 Abs. 3, 288 ZPO entgegen. Die Echtheit der unter eine Privaturkunde gesetzten Namensunterschrift unterliegt der freien Beweiswürdigung des Gerichts (§ 440 Abs. 1 ZPO; Schreiber in MünchKomm/ZPO, § 440 Rz. 2, m.w.N.). Erklärt sich allerdings der Prozessgegner nicht zur Echtheit der Namensunterschrift, gilt deren Echtheit mit der Wirkung eines Geständnisses als anerkannt (§§ 439 Abs. 2 und 3, 288 ZPO). Diese Regeln gelten auch für die im Rahmen einer Schriftvergleichung i.S.d. § 441 ZPO zu verwendenden Vergleichsunterschriften (Schreiber in MünchKomm/ZPO, § 441 Rz. 6; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 441 Rz. 3). Die Wirkung eines gerichtlichen Geständnisses beschränkt sich aber auf den Prozess, in dem es abgegeben wurde (BGH, Urt. v. 15.3.2004 - II ZR 136/02, BGHReport 2004, 1115 = MDR 2004, 954 = NJW-RR 2004, 1001, m.w.N.; BAG, Urt. v. 9.2.1995 - 2 AZR 389/94, NJW 1996, 1299 [1230]; Prütting in MünchKomm/ZPO, § 288 Rz. 33; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 288 Rz. 13, 20), hier also auf den Vorprozess. Für den Schadensersatzprozess nach § 826 BGB gilt die Beschränkung des Rechts auf freie Beweiswürdigung daher nicht.
4. Der Senat hat von der Möglichkeit des § 21 Abs. 1 S. 1 GKG Gebrauch gemacht.
Fundstellen
Haufe-Index 1445180 |
BGHZ 2006, 87 |
NJW 2006, 154 |
Inf 2005, 891 |
BGHR 2006, 51 |
FamRZ 2005, 2061 |
DRiZ 2006, 352 |
WM 2005, 2203 |
MDR 2006, 288 |
VersR 2006, 139 |
r+s 2006, 307 |