Leitsatz (amtlich)
Die Umsetzung des Finanzierungskonzepts der Sozialraumbudgetierung für Leistungen der Hilfe zur Erziehung verletzt den von der Leistungserbringung ausgeschlossenen Träger der freien Jugendhilfe in seiner Berufsfreiheit, wenn die Auswahlentscheidung nicht nach pflichtgemäßem Ermessen getroffen worden ist.
Nachgehend
Gründe
1. Die Antragstellerin ist anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und betreibt das … Bergedorf. Sie hat mit der Antragsgegnerin eine Vereinbarung “nach §§ 77 und 78a bis g SGB VIII” für Hilfen nach §§ 30, 31 und 35 SGB VIII geschlossen. Mit fünf anderen Trägern der freien Jugendhilfe hat die Antragsgegnerin einen Kooperationsvertrag und Regionale Versorgungsverträge geschlossen. Darin verpflichten sich diese Träger der freien Jugendhilfe u. a. dazu, die notwendige Infrastruktur zur Erbringung von Leistungen nach §§ 29 bis 32 und 35 SGB VIII zu gewährleisten. Im Gegenzug erhält der jeweilige Träger der freien Jugendhilfe dafür eine pauschale Jahresvergütung. Von dem für die genannten Hilfen bereitgestellten Finanzvolumen werden 90 % an die fünf Träger der freien Jugendhilfe vergeben, die sich verpflichtet haben, die ihnen übertragenen Fälle mit dem jeweiligen Budget “abzuarbeiten”, wobei im Falle einer die Ressourcen übersteigenden Nachfrage an Hilfen eine Überlastquote von 10 % vereinbart worden ist. Dieses neue Finanzierungs- und Steuerungskonzept wird seit einigen Jahren unter dem Schlagwort der “Sozialraumbudgetierung” diskutiert. Die Antragstellerin, die bei der Auswahl der Träger der freien Jugendhilfe, die an diesem Konzept teilhaben, nicht berücksichtigt worden ist, sieht sich in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG beeinträchtigt.
2. In diesem Rechtsstreit geht es mithin um die Frage, ob das Konzept der Finanzierung von Leistungen der Hilfe zur Erziehung nach dem SGB VIII im Wege der Sozialraumbudgetierung rechtlich zulässig ist und die Antragstellerin als Träger der freien Jugendhilfe und potentiellen Leistungserbringer (im Sinne des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses) in ihrem Grundrecht nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt (zur Einführung in die Problematik vgl. Münder, ZfJ 2002, 416; Wiesner, ZfJ 2004, 241, 246 ff, jeweils m. w. Nachw.).
Die Finanzierung von Leistungen der Hilfe zur Erziehung bezogen auf einen Sozialraum und nicht bezogen auf den individuellen Hilfefall ist zunächst vor dem Hintergrund einer fachlichen Diskussion in der Jugendhilfe zu sehen, nämlich der Sozialraumorientierung jugendhilferechtlicher Maßnahmen. Danach soll bei jugendhilferechtlichen Problemlagen vor allem das soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen erhalten, gefördert und unterstützt werden, um ihnen möglichst gute Lebensbedingungen zu schaffen (Stichwort: Lebensweltorientierung, vgl. dazu näher Kreft/Mielenz, Wörterbuch Soziale Arbeit, Stichwort: Theorie der Sozialarbeit/Sozialpädagogik). Dies macht eine Vernetzung der vielfältigen Angebote und Hilfen notwendig, erfordert ein Zusammenwirken aller Akteure auf dem Gebiet der Jugendhilfe (freie und öffentliche Jugendhilfe, Schule, Vereine, Selbsthilfegruppen, Polizei etc.) und verlangt nach einer Auflösung der “Versäulung” der verschiedenen Hilfearten der Hilfe zur Erziehung (vgl. zu dem Modellversuch INTEGRA des zust. Bundesministeriums, Koch ZfJ 2000, 201; ferner Marquardt, ZfJ 2002, 18; Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg), Sozialraumorientierung in der Berliner Jugendhilfe, 2. Aufl. 2002). Diese fachliche Diskussion steht hier nicht zur Entscheidung. Das geltende Jugendhilferecht lässt derartige Ansätze nicht nur zu, sondern verlangt sogar ihre Beachtung (dazu Wiesner, a. a. O. S. 246 f.).
Eine weitere Dimension des Themas “Sozialraumorientierung” betrifft die Frage, ob durch die Fokussierung auf einen Sozialraum der individuelle Anspruch des Leistungsberechtigten Schaden nimmt, wenn nicht er als Person im Mittelpunkt der Betrachtung steht, sondern vielmehr sein Wohnquartier. Schließlich geht es in diesem Zusammenhang auch um die Frage, ob der Träger der öffentlichen Jugendhilfe seiner gesetzlichen Aufgabe noch gerecht wird, wenn er “lediglich” einen Sozialraum finanziert und die nähere Ausgestaltung der Angebote und Hilfen den Leistungserbringern, regelmäßig den Trägern der freien Jugendhilfe, überlässt. Denn das Jugendamt ist nicht lediglich Kostenträger, sondern Leistungsträger (so eindringlich BVerwG, ZfJ 2001, 310). Wiesener sieht insoweit die Gefahr, dass an die Stelle einer “Steuerung durch Recht” eine “Steuerung durch Geld” tritt (a. a. O. S. 248). Auch zu diesen Fragen ist hier nichts zu entscheiden.
Das Thema “Sozialraumorientierung” wirft aber die hier zu entscheidende rechtliche Frage auf, ob dabei auch neue Wege der Finanzierung der Leistungen beschritten werden dürfen. Dabei ist das Thema noch weiter dahingehend zu präzisieren, ob die neuen Finanzierungs- und Steuerungsmethoden Rechte der Leistungserbringer verletzen ...