Entscheidungsstichwort (Thema)

Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 08.12.2001; Aktenzeichen 1 BvQ 49/01)

Thüringer OVG (Beschluss vom 07.12.2001; Aktenzeichen 3 ZEO 812/01)

 

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 04.12.2001 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 06.11.2001 wird unter folgenden Auflagen wiederhergestellt:

Der Antragstellerin wird untersagt, Herrn P_____ W_____ auf der Versammlung am 08.12.2001 in Nordhausen als stellvertretenden Organisationsleiter einzusetzen.

Es ist der Antragstellerin untersagt, Herrn H_____ M_____ und Herrn F_____ S_____ als Redner während der Versammlung auftreten zu lassen.

Die Antragstellerin hat bis zum 08.12.2001, 9 Uhr, 50 Ordner unter Angabe derer Namen und Geburtsdaten schriftlich gegenüber dem Antragsgegner zu benennen.

Das Mitführen von Fackeln bei der Versammlung wird untersagt.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

2. Die Kosten des Verfahrens haben die Beteiligten je zur Hälfte zu tragen.

3. Der Streitwert wird auf 8.000,–DM festgesetzt.

 

Gründe

Der Antrag hat im tenorierten Umfang Erfolg.

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 VwGO statthaft und auch sonst zulässig. Insbesondere hat die Antragstellerin entgegen der Auffassung des Antragsgegners den Anspruch auf vorläufigen Rechtsschutz nicht verwirkt. Erst mit der Bestandskraft des angegriffenen Verwaltungsaktes ist der verfassungsmäßige Rechtsschutzanspruch des Art. 19 Abs. 4 GG verbraucht mit der Folge, dass kein Anspruch mehr auf vorläufigen Rechtsschutz besteht und das Aussetzungsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht mehr statthaft ist (vgl. Finkelnburg / Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rnr. 848). Soweit der Antragsgegner der Ansicht ist, dass er, nachdem die Antragstellerin vier Wochen nach der Zustellung der Verbotsverfügung untätig geblieben ist, darauf habe vertrauen dürfen, dass die Antragstellerin das Antragsrecht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde, findet sich dafür keine gesetzliche Grundlage. Die Widerspruchsfrist läuft gem. § 70 Abs. 1 VwGO einen Monat und nicht vier Wochen ab Zustellung des Verwaltungsaktes. Die vom Antragsgegner insofern vertretene Ansicht würde damit zu einer mit Art. 19 Abs. 4 GG und dem Zweck der Rechtsbehelfsfristen (Überlegungs- und Vorbereitungszeit) unvereinbaren faktischen Verkürzung der Rechtsbehelfsfristen führen.

Der Antrag ist im tenorierten Umgang auch begründet.

Die im Rahmen einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene und allein mögliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage führt zu dem Ergebnis, dass das Interesse der Antragstellerin, vorläufig von den Folgen der Verbotsverfügung verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an dem Sofortvollzug der angegriffenen Maßnahme überwiegt. Die Verbotsverfügung erweist sich nämlich, soweit sie die Veranstaltung vollständig verbietet, als offensichtlich rechtswidrig.

Die Voraussetzungen eines Versammlungsverbotes nach § 15 Abs. 1 VersammlG sind nicht erfüllt.

Gemäß § 15 Abs. 1 VersammlG kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei der Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst dabei nach allgemeiner Ansicht den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der gesamten Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit anzunehmen sein wird, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht. Unter öffentlicher Ordnung versteht das allgemeine Polizeirecht die Summe der ungeschriebenen Verhaltensregeln, deren Einhaltung nach den Vorstellungen der Menschen im jeweiligen Rechtsraum für ein geordnetes staatsbürgerliches Zusammenleben unverzichtbar sind. Darauf kann nur höchst ausnahmsweise eine Entscheidung nach § 15 VersammlG gestützt werden (ThürOVG, Beschl. v. 13.08.1999, ThürVBl. 2000, 12, 13).

Die behördliche Eingriffsbefugnis wird dadurch begrenzt, dass Verbote und Auflösungen nur bei einer „unmittelbaren Gefährdung” der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung statthaft sind. Durch das Erfordernis der Unmittelbarkeit werden die Eingriffsvoraussetzungen stärker als im allgemeinen Polizeirecht eingeengt. Geboten ist im konkreten Fall eine Gefahrenprognose, deren Grundlagen ausgewiesen werden müssen. Zu den erkennbaren Umständen zählen alle Tatsachen, die einen Schluss auf das künftige Verhalten der Veranstalter und Teilnehmer einer Versammlung zulassen. Deshalb können neben einschlägigen strafgerichtlichen Verurteilungen auch Tatsachen und Erkenntnisse aus strafrechtlichen Ermittlungs- und ...

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