Rechtskraft nein
Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausweisung Unionsbürger. Freizügigkeit. Beschränkungen. Maßgeblicher Zeitpunkt. Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus. Gründe der öffentlichen Ordnung. Gründe der öffentlichen Gesundheit. Rechtsmittel. Gesetzmäßigkeit. Zweckmäßigkeit. Verhältnismäßigkeit. Ausweisung und Abschiebungsandrohung
Leitsatz (amtlich)
1. Die rechtliche Beurteilung der Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers ist gleichsam auf zwei Stufen vorzunehmen. Dabei ist die Ausweisung zunächst – unabhängig vom Europäischen Gemeinschaftsrecht – auf ihre Rechtmäßigkeit nach deutschem Recht zu überprüfen. Nur für den Fall, dass im Rahmen einer Überprüfung nach deutschem Recht dem Begehren des Unionsbürgers nicht entsprochen werden kann, muss eine – selbständige – Prüfung unter Beachtung der Regelungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts nach dem Maßstab für eine Beschränkung der Freizügigkeit erfolgen.
2. Für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisungsverfügung ist nach deutschem Recht grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgebend. Auf der europarechtlichen Beurteilungsstufe ist nach einem „längeren Zeitraum” zwischen dem Eintritt der Wirksamkeit der Ausweisung und dem Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts auch eine Veränderung der Sachlage – zu Gunsten wie auch zu Lasten des Unionsbürgers – zu berücksichtigen, die nach der Behördenentscheidung eingetreten ist (wie EuGH, Urteil vom 29.4.2004 in den verbundenen Rechtssachen C-482/01 und C-493/01 ≪Orfanopoulos und Oliveri≫).
3. Die Regelungen des § 12 AufenthG/EWG stehen mit den Vorgaben der RL 64/221/EWG in Einklang, soweit die Beschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und aus Gründen der öffentlichen Gesundheit verfügt wird. Daher besteht insoweit für eine unmittelbare Anwendung der RL 64/221/EWG kein Bedürfnis.
4. Aus Art. 4 Abs. 2 RL 64/221/EWG ergibt sich kein allgemeines Ausweisungsverbot freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger für alle Fallgestaltungen, in denen die im Anhang zu der Richtlinie aufgeführten Krankheiten oder Gebrechen erst nach Erteilung der ersten Aufenthaltserlaubnis-EG auftreten. Vielmehr stehen Art. 4 RL 64/221/EWG und § 12 Abs. 6 Satz 1 AufenthG/EWG auch nach Erteilung der ersten Aufenthaltserlaubnis-EG einer Beschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung nicht entgegen, wenn der Kranke über das „Auftreten” der Krankheit – in ihrer lediglich abstrakten Gefährlichkeit – hinaus durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung nunmehr konkret (tatsächlich und hinreichend schwer) gefährdet und dadurch ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
5. Die Verfahrensgarantien des Art. 9 RL 64/221/EWG werden durch den Rechtsschutz erfüllt, den die Verwaltungsgerichte in Deutschland gewähren (Fortführung der Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 28.11.2002 – 11 S 1270/02 –).
Normenkette
AuslG §§ 45, 46 Nr. 2; AufenthG/EWG §§ 1, 12 Abs. 1, 6; StGB § 63; EG Art. 17-18, 39, 249; RL 64/221/EWG Art. 4, 6, 9; RL 2004/38/EG Art. 29
Verfahrensgang
VG Freiburg i. Br. (Urteil vom 16.01.2004; Aktenzeichen 1 K 560/02) |
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 16. Januar 2004 – 1 K 560/02 – geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der am 10.12.1964 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er hält sich seit April 1987 in der Bundesrepublik Deutschland auf, wo er als Textilarbeiter erwerbstätig war. Am 10.6.1997 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis-EG erteilt.
Am 22.3.1991 schloss der Kläger mit einer französischen Staatsangehörigen die Ehe. Aus dieser Ehe gingen ein (am 20.5.1991 geborener) Sohn und eine (am 3.12.1994 geborene) Tochter hervor. Die Ehefrau und die Kinder des Klägers leben inzwischen in Frankreich.
Der Kläger wurde im Jahr 1998 psychisch auffällig und ab September/Oktober 1998 gegen seine Ehefrau und gegen seine Kinder gewalttätig. Am 13.10.1998 schlug er sich nackt in der Garage mit einem Gürtel. Daraufhin erfolgte seine erste Einweisung in das Zentrum für Psychiatrie Reichenau, wo er in der Zeit vom 14.10.1998 bis zum 13.11.1998 stationär aufgenommen wurde. Aus dem Entlassbericht (vom 7.12.1998) ergibt sich die Abschlussdiagnose: „Akute psychogene Psychose mit paranoidhallu-zinatorischer Ausprägung (ICD-9:298.4)”. In der Folgezeit wurde der Kläger medikamentös behandelt. Im November 1999 lehnte er eine weitere Medikation mit einem Neuroleptikum ab und setzte seine Medikamente ab, wodurch sich eine psychische Dekompensation anbahnte. Nachdem er in der Öffentlichkeit auffällig geworden war, indem er seine Ehefrau (auf einem Friedhof) misshandelt hatte, erfolgte sein zweiter stationärer Aufenthalt im Zentrum für Psychiatrie Reichenau in der Zeit vom 15.11.1999 bis zum 19.11.1999 (Abschlussdiagnose – gemäß Entlassbericht vom 25.11.1999 –: „An...