Dr. Wolf-Dietrich Deckert†
Leitsatz
"Akademischer" Streit zur Wertung der Stimmenthaltung beendet: Stimmenthaltung kann grds. auch im Wohnungseigentumsrecht nicht als Nein-Stimme gewertet werden!
Normenkette
§ 25 WEG, § 32 BGB
Kommentar
Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass für die Frage des Zustandekommens eines Mehrheitsbeschlusses in einer Wohnungseigentümerversammlung allein auf die Mehrheit der Zahl der abgegebenen Ja-Stimmen im Verhältnis zu den Nein-Stimmen abzustellen ist. Überwiegen die Ja-Stimmen die Nein-Stimmen, liegt ein Mehrheitsbeschluss vor; Enthaltungsstimmen sind bei der Berechnung nicht mitzuzählen.
Der V. Senat des BGH hat sich hier der Meinung des II. Senats zum Vereinsrecht (zu § 32 BGB) angeschlossen. Stimmenthaltungen sind also in gleicher Weise zu behandeln wie nicht abgegebene Stimmen anwesender Eigentümer. Die wohl bisher als herrschend zu bezeichnende Rechtsmeinung, dass Eigentümer, die sich der Stimmen enthalten, als Erschienene mitgezählt werden, mithin ihre Stimmenthaltung wie eine Ablehnung zu werten sei, ist damit revidiert. Abgestellt werden muss in Zukunft allein auf das Verhältnis der Ja-Stimmen zu den Nein-Stimmen; werden insoweit mehr Ja-Stimmen abgegeben, ist ein Mehrheitsbeschluss zustandegekommen.
Einer Stimmenthaltung könne weder ein zustimmendes noch ein ablehnendes Votum entnommen werden. Würden sich Enthaltungen immer wie Nein-Stimmen auswirken, würde der objektive Erklärungswert dieses Abstimmungsverhaltens verfälscht. Wer sich der Stimme enthalte, wolle seine Unentschiedenheit bekunden, und zwar im gleichen Sinne, als wenn er der Versammlung fern geblieben wäre oder sich vor der Abstimmung entfernt hätte. Andernfalls würde ein rechtsgrundloser Abstimmungszwang postuliert. Gegenteiliges lasse sich auch nicht aus anderen Bestimmungen des WEG ableiten (auch nicht aus den Materialien zum Gesetz).
Unabhängig von der Gewichtigkeit einer anstehenden Entscheidung könne nicht über eine Bewertung der Stimmenthaltung als Nein-Stimme ein mittelbarer Entscheidungszwang abgeleitet werden. Folge dieses Ergebnisses sei, dass damit positive/zustimmende Beschlüsse erleichtert würden.
Link zur Entscheidung
( BGH, Beschluss vom 08.12.1988, V ZB 3/88auf Vorlage des OLG Celle = NJW 1989, 1090)
zu Gruppe 5: Rechte und Pflichten der Miteigentümer
Anmerkung:
Damit ist diese seit langem mehr oder weniger "akademisch" diskutierte Rechtsfrage nunmehr klarstellend entschieden. Pädagogische Wirkung dürfte diese Entscheidung sicher insoweit haben, als sich Eigentümer nunmehr häufiger zu einem Beschlussantrag zustimmend oder ablehnend und nicht unentschieden äußern dürften, um "Mehrheitsbeschlüsse einer Minderheit" zu vermeiden. Andererseits könnten allerdings auch Beschlussfassungen nachträglich bei "besserer Erkenntnis" häufiger angefochten werden, wohl auch von Eigentümern, die in der Versammlung über Enthaltung überhaupt kein zählbares Votum abgegeben haben.
Negiert wurde im Übrigen nicht der rechtliche Charakter der Enthaltungsstimme als Willenserklärung im Sinne des BGB, sondern es wurde nur bei der Bewertung einer notwendigen Mehrheit für das Zustandekommen von Wohnungseigentümerbeschlüssen die Rechtsfolge festgestellt, dass solche Willenserklärungen einer Enthaltung nach objektivem Erklärungswert und wohl auch häufig nach subjektivem Willen der mit Enthaltung Stimmenden bei der notwendigen Mehrheitsberechnung ausgeklammert bleiben.
Die Entscheidung wird also in all den Gemeinschaften zu berücksichtigen sein, in denen keine anderslautenden Vereinbarungen oder bestandskräftigen Orga-Beschlüsse getroffen wurden; gültige Vereinbarungen und bestehende Beschlüsse sind nach wie vor trotz dieser Entscheidung vorrangig zu berücksichtigen (bezogen auf Beschlüsse allerdings nur solange, als nicht alte Beschlüsse im Hinblick auf diese neue BGH-Entscheidung durch neuen Beschluss aufgehoben werden).
Versammlungsleiter in Gemeinschaften ohne spezielle Regelung sollten nunmehr Eigentümer spätestens in neuerlichen Versammlungen einleitend auf diese BGH-Entscheidung hinweisen, damit sich Eigentümer bei ihrem Abstimmungsverhalten auf die vorzunehmende Wertung ihrer Stimme (bzw. Nichtwertung) einrichten können.