1 Leitsatz
Der gerichtlichen Fürsorgepflicht sind im Interesse der Funktionsfähigkeit der Justiz enge Grenzen gesetzt. Nur unter besonderen Umständen kann ein Gericht gehalten sein, einer drohenden Fristversäumnis seitens der Partei entgegenzuwirken. So darf es nicht sehenden Auges zuwarten, bis die Partei Rechtsnachteile erleidet. Deshalb darf ein Rechtsuchender darauf vertrauen, dass ein mit der Sache bereits befasstes Gericht einen bei ihm eingereichten, aber für das Rechtsmittelgericht bestimmten Schriftsatz, im ordentlichen Geschäftsgang dorthin weiterleiten wird.
2 Normenkette
§ 72 Abs. 2 GVG
3 Das Problem
Das AG Mainz weist eine von Wohnungseigentümer K erhobene Anfechtungsklage ab. Das Urteil wird K am 22.1. zugestellt. In der Rechtsmittelbelehrung wird das LG Mainz als zuständiges Berufungsgericht bezeichnet. Dorthin richtet K seine Berufung und begründet diese. Das LG Mainz weist am 22.4. darauf hin, dass das LG Koblenz das zuständige Berufungsgericht sein dürfte. K solle kurzfristig mitteilen, ob das Berufungsverfahren dorthin verwiesen werden solle. Mit Schriftsatz vom 23.4. beantragt K die Verweisung an das LG Koblenz. Die Akte geht allerdings erst am 10.6. beim LG Koblenz ein. Dieses verwirft die Berufung als unzulässig. K sei keine Wiedereinsetzung zu gewähren. Denn K habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass das LG Mainz die Akte innerhalb der am 6.5. endenden Wiedereinsetzungsfrist weiterleiten werde. Dagegen wendet sich K mit der Rechtsbeschwerde.
4 Die Entscheidung
Das LG Koblenz habe die beantragte Wiedereinsetzung rechtsfehlerfrei versagt. Der Prozessbevollmächtigte des K habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass das LG Mainz das Verfahren so rechtzeitig abgeben werde, dass die Akte vor Ablauf des 6.5. beim LG Koblenz eintrifft. Der gerichtlichen Fürsorgepflicht seien im Interesse der Funktionsfähigkeit der Justiz enge Grenzen gesetzt. Nur unter besonderen Umständen könne ein Gericht gehalten sein, einer drohenden Fristversäumnis seitens der Partei entgegenzuwirken. So dürfe ein Gericht nicht sehenden Auges zuwarten, bis die Partei Rechtsnachteile erleide. Deshalb dürfe ein Rechtsuchender darauf vertrauen, dass ein mit der Sache bereits befasstes Gericht einen bei ihm eingereichten, aber für das Rechtsmittelgericht bestimmten Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang dorthin weiterleiten werde. Gehe der Schriftsatz dabei so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden könne, dürfe die Partei auch darauf vertrauen, dass er noch fristgerecht bei dem Rechtsmittelgericht eingehe. Geschehe dies tatsächlich nicht, sei der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unabhängig davon zu gewähren, auf welchen Gründen die fehlerhafte Einreichung beruhe. Solche besonderen Umstände seien aber nicht gegeben. K's Schriftsatz vom 23.4. sei nicht zu entnehmen gewesen, dass eine fristgebundene Entscheidung des LG Koblenz herbeigeführt werden sollte. Der Schriftsatz habe weder einen an das LG Koblenz gerichteten Wiedereinsetzungsantrag enthalten noch sei die Eilbedürftigkeit der Abgabe durch andere Ausführungen erkennbar gewesen. Infolgedessen sei für das LG Mainz nicht ersichtlich gewesen, dass die Abgabe (auch) der Wahrung der Wiedereinsetzungsfrist habe dienen sollen.
5 Hinweis
Wird ein fristgebundener Rechtsmittelschriftsatz irrtümlich beim falschen Gericht eingereicht und kann dieses seine Unzuständigkeit "ohne Weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" erkennen, ist der fehlgeleitete Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsganges an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Geschieht dies nicht, geht die nachfolgende Fristversäumnis nicht zulasten des Rechtsuchenden, wenn und soweit die Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang für eine Fristwahrung ausgereicht hätte. Eine der Kardinalfragen bei dieser Rechtsprechung ist neben den Fragen, wer wohl wann was erkennen kann, wie früh die Rechtsmittelschrift beim falschen Gericht eingehen muss, damit man auf eine Weiterleitung vertrauen darf. In einem aktuellen Fall ging es um 13 Tage. Hier zeigt sich der BGH ungnädig Seine Ausführungen überzeugen womöglich nicht. Denn das angerufene LG wusste um seine Unzuständigkeit und hatte das dem Kläger auch gesagt. Als dieser um die Verweisung bat, hätte das angerufene LG nicht zögern dürfen. Denn der Zeitraum von 13 Tagen dürfte für einen Aktentransport zwischen Mainz und Koblenz grundsätzlich ausreichend gewesen sein. Folgt man dem BGH, hätte sich der Prozessbevollmächtigte sofort und direkt an das für die Wiedereinsetzung und die Berufung zuständige LG Koblenz wenden und die erforderlichen Anträge dort stellen müssen. Aber: was nutzt dann noch die Weiterleitung?
6 Entscheidung
BGH, Beschluss v. 1.7.2021, V ZB 71/20