Gemäß § 12a S. 2 Nr. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte u.a. grundsätzlich verpflichtet, ab Vollendung des 63. Lebensjahres durch Antrag auf vorzeitige Altersrente ihre Hilfebedürftigkeit zu beseitigen oder zu vermindern. Renten, die nach dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem 63. Lebensjahr in Anspruch genommen werden können, gehen jedoch i.d.R. mit Abschlägen einher (s. die Aufstellung bei Geiger, in: LPK-SGB II, § 12a Rn 9).
Hinweis:
Ausnahmen von dieser Antragpflicht bestimmt die Unbilligkeitsverordnung vom 14.8.2008, die ab dem 1.1.2017 neu gefasst wurde (Art. 1 1. ÄnderungsVO v. 4.10.2016, BGBl I., S. 2210). § 3 der Verordnung lautet nunmehr: "Unbillig ist die Inanspruchnahme, wenn Hilfebedürftige in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen können."
Kommen Leistungsberechtigte der Aufforderung des Jobcenters nicht nach, kann dieses gem. § 5 Abs. 3 SGB II Rentenantrag stellen. In der öffentlichen Diskussion wird in diesem Zusammenhang von "Zwangsverrentung" gesprochen.
Im vorliegenden Fall (BSG, Urt. v. 9.8.2018 – B 14 AS1/18 R) konnte der 1954 geborene Kläger, der seit 2014 mit seiner Ehefrau im Leistungsbezug stand, seit August 2017 vorzeitig Altersrente für langjährig Versicherte (§§ 36, 236 SGB VI) mit einem Abschlag von 9,6 % und seit Dezember 2017 Altersrente für besonders langjährig Versicherte (§§ 38, 236b SGB VI) ohne Abschlag in Anspruch nehmen. Das beklagte Jobcenter forderte den Kläger zunächst zur Beantragung der geminderten Altersrente auf und stellte dann, nachdem der Aufforderung nicht nachgekommen wurde, beim beigeladenen Rentenversicherungsträger den Antrag, dem Kläger ab August 2017 vorzeitig Altersrente zu gewähren. Ein atypischer Fall, der die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente als unzumutbar erscheinen ließe, liege nicht vor, auch nicht – trotz § 3 der Verordnung – im Hinblick auf die vier Monate später bestehende Möglichkeit des abschlagsfreien Bezugs. Hierbei berief sich die Beklagte zur Begründung ihrer Auffassung auf den Referentenentwurf zur oben erwähnten Änderungsverordnung, in dem die Formulierung in § 3 ("in nächster Zukunft") mit "längstens 3 Monaten" erläutert worden ist.
Das SG hat die Aufforderung zur Rentenantragstellung aufgehoben. Die Sprungrevision des Jobcenters blieb erfolglos. Mit der Freistellung von der Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer geminderten Altersrente im Hinblick auf eine "bevorstehende abschlagsfreie Altersrente" habe der Verordnungsgeber nach seiner Regelungsintention auf das Missverhältnis zwischen Höhe der bei vorzeitiger Inanspruchnahme hinzunehmenden Abschläge im Rentenbezug einerseits und der vergleichsweise kurzen restlichen Bezugszeit von SGB-II-Leistungen bis zum Beginn der abschlagsfreien Altersrente andererseits reagiert. Daran gemessen sei eine zusätzliche Inanspruchnahme von vier Monaten bei einer durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von gegenwärtig nahezu 20 Jahren so kurz, dass der Verweis auf eine dauerhaft geminderte Altersrente einem Leistungsberechtigten nicht zuzumuten und unbillig ist. Die von dem Beklagten angeführte Erläuterung im Referentenentwurf stehe dem nicht entgegen. Die offene Formulierung im Verordnungstext belege im Gegenteil, dass der Verordnungsgeber bei der Rechtsanwendung die Feststellung von Unbilligkeiten Auslegungsspielräume lassen und gerade keine strikte Zeitgrenze einführen wollte.