Lässt sich in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens eine Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls nicht erreichen, können sich neue Verteidigungsansätze ergeben, wenn mit der Hauptverhandlung nicht vor Ablauf von sechs Monaten Untersuchungshaft begonnen werden kann und die Akten deshalb gem. §§ 121, 122 StPO dem OLG zur besonderen Haftprüfung vorgelegt werden müssen. In diesen Fällen ist insb. in den Blick zu nehmen, ob der Fall tatsächlich, wie von § 121 Abs. 1 StPO verlangt, besonders schwierig oder besonders umfangreich ist oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zulässt. Darüber hinaus kommt dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen hier besondere Bedeutung zu.
1. Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens
Der besondere Umfang oder die besondere Schwierigkeit eines Verfahrens sind anhand eines Vergleichs mit einem durchschnittlichen Ermittlungsverfahren zu beurteilen (Meyer-Goßner/Schmitt, § 121 StPO Rn 17), wobei zwischen den beiden Verlängerungsgründen nicht immer trennscharf unterschieden werden kann; teilweise überschneiden sie sich (KK/Schultheis, § 121 StPO, Rn 14). Die Anordnung der Haftfortdauer kann etwa gerechtfertigt sein, wenn eine Vielzahl von Straftaten aufzuklären ist, zahlreiche Zeugen vernommen oder Gutachten eingeholt werden müssen (vgl. BGH, Beschl. v. 25.8.2021 – AK 42/21: 145 Zeugen und 7 Sachverständige; BGH, Beschl. v. 7.12.2021 – AK 51/21: Vielzahl von sich im Ausland aufhaltenden Zeugen; BGH, Beschl. v. 26.1.2022 – AK 1/22: mehrere Rechtshilfeersuchen an ausländische Stellen), sich das Verfahren gegen mehrere Angeklagte richtet oder zahlreiche fremdsprachige Dokumente zu übersetzen sind (Meyer-Goßner/Schmitt u. KK/Schultheis, jew. a.a.O.). Auch kann es die Verlängerung der Untersuchungshaft rechtfertigen, wenn zahlreiche Datenträger, insb. Mobiltelefone, ausgewertet werden müssen, insb. wenn dies auch noch umfassende Übersetzungen erfordert (BGH, Beschl. v. 14.7.2021 – AK 37/21) oder wenn die Akten besonders umfangreich sind (BGH, Beschl. v. 7.12.2021 – AK 51/21: 50 Ordner Sachakten u. BGH, Beschl. v. 21.12.2021 – AK 52/21: Auswertung von 152 Aktenordnern und 5,5 Terabyte Daten).
2. Beschleunigungsgebot
In Haftsachen hat der sich aus Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK ergebende besondere Beschleunigungsgrundsatz große Bedeutung. Hierbei handelt es sich um eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Das Beschleunigungsgebot umfasst sämtliche Abschnitte des Verfahrens, insb. also das Ermittlungsverfahren, das Zwischenverfahren und die Hauptverhandlung. Je länger das Verfahren dauert, desto stärker wird das Gewicht des Freiheitsanspruchs des inhaftierten Beschuldigten (s. hierzu Burhoff/Hillenbrand, HV, Rn 2035 ff.).
Hinweis:
Kommt es bereits im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren zu Verstößen gegen den Beschleunigungsgrundsatz, kann der Verteidiger selbstverständlich auch vor Ablauf der Sechsmonatsfrist mit dem Haftprüfungsantrag oder der Haftbeschwerde gegen den Haftbefehl vorgehen und einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot rügen. Ein Zuwarten bis zur Aktenvorlage an das OLG ist dann weder erforderlich noch geboten. Allerdings legen die OLG-Senate häufig einen strengeren Prüfungsmaßstab an als die Instanzgerichte.
Ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz kommt etwa dann in Betracht, wenn im Ermittlungsverfahren naheliegende Ermittlungshandlungen unterlassen oder verzögert durchgeführt werden oder die Anklageerhebung verzögert erfolgt. Dies kommt nicht ganz selten vor, manchmal scheinen die Ermittlungsbehörden etwas „durchzuatmen”, wenn der Beschuldigte erst einmal in Haft genommen worden ist und das Ermittlungstempo lässt zumindest vorübergehend nach.
Eine relevante Verzögerung kann zudem auch darin liegen, dass nicht zeitnah über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden wird. Insoweit bestehen zwar keine festen Grenzen, das BVerfG und die obergerichtliche Rechtsprechung haben aber Zeiträume von vier oder gar fünf Monaten als zu lang beanstandet (Nachweis hierzu bei Burhoff/Hillenbrand, HV, Rn 2041). Im Regelfall muss innerhalb von drei Monaten nach der Eröffnungsentscheidung die Hauptverhandlung beginnen (BVerfG, Beschl. v. 3.2.2021 – 2 BvR 2128/20).
Ferner kann auch die Terminsdichte Anlass zur Beanstandung geben, es darf i.d.R. nicht nur ein Sitzungstag pro Woche abgehalten werden (w.N. hierzu bei Burhoff/Hillenbrand, HV, Rn 2042). Urlaube von Verteidigern und Mitgliedern des Spruchkörpers stehen der Haftfortdauer grds. nicht entgegen (OLG Brandenburg, Beschl. v. 9.8.2021 – 2 Ws 113/21), bei länger andauernden Verfahren sind sie aber durch eine intensivere Terminierung und Verhandlung in den verbleibenden Zeiträumen auszugleichen (OLG Hamburg, Beschl. v. 6.10.2017 – 2 Ws 161/17). Auch bleiben die Urlaubsabwesenheiten bei der Berechnung der durchschnittlichen Sitzungstage pro Woche unberücksichtigt, sie sind bei der Berechnung der Terminierungsdichte in Abzug zu bringen (SächsVerfGH, Beschl. v. 28.5.2020 – Vf. 37-IV-20).
Hinweis:
Das Beschleunigungsgebot gilt nicht nur während des Ermitt...