Dem nun zu besprechenden Urteil (BAG, Urt. v. 8.9.2021 – 5 AZR 149/21, NZA 2022, 39 = NJW 2022, 490) ist wohl das Prädikat „meist zitiertes Urteil des Jahres” zuzuschreiben. Der Fünfte Senat hatte folgenden Sachverhalt zu beurteilen: Die Klägerin war bei der Beklagten seit Ende August 2018 als kfm. Angestellte beschäftigt. Am 8.2.2019 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis während der Probezeit zum 22.2.2019 und legte der Beklagten eine auf den 8.2.2019 datierte, als Erstbescheinigung gekennzeichnete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, welche die Arbeitsunfähigkeit bis 22.2.2019 attestierte. Die Diagnose nach ICD-Code lautete: F 45.9 = „somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet”. Die Arbeitgeberin verweigerte die Entgeltfortzahlung. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert, weil diese genau die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach der Eigenkündigung der Klägerin abdecke. Die Klägerin hat demgegenüber geltend gemacht, sie sei ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen und habe vor einem „Burn-Out” gestanden.
ArbG und LAG haben der Entgeltfortzahlungsklage in vollem Umfang stattgegeben. Das BAG wies die Klage ab. Kündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis (Eigenkündigung) und wird er am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insb. dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.
Doch die Entscheidung enthält nur eine Einzelfallentscheidung und keinen grundsätzlichen Neuigkeitswert. Das BAG folgt zunächst der st. Rspr.: Der Arbeitnehmer, der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall begehrt, hat darzulegen und zu beweisen, dass er arbeitsunfähig krank war. Diesen Beweis kann der Arbeitnehmer auf zweierlei Arten führen: (1) i.d.R. durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. (2) Alternativ kann er diesen Beweis aber auch mit jedem anderen zulässigen Beweismittel führen. Kommt der Arbeitnehmer seiner Verpflichtung zur Beibringung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (§ 5 Abs. 1 S. 2, 3 EFZG) nicht nach, so folgt hieraus allein kein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitgebers, sondern nur ein Zurückbehaltungsrecht nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG. Es endet, wenn der Arbeitnehmer anderweitig bewiesen hat, arbeitsunfähig krank gewesen zu sein.
Erstmalig hat nun der Fünfte Senat die Erschütterung des Beweiswertes für folgenden Gestaltung bejaht: Koinzidenz von Eigenkündigung des Arbeitnehmers und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Beginn und Ende, sodass die Bescheinigung die Gesamt- und Restdauer der Kündigungsfrist ausschöpft und gleichzeitig/taggleich mit der Kündigung erfolgt. Die Klagabweisung konnte aber nur erfolgen, weil der Nachweis allein auf den „gelben Schein” gestützt war und kein weiterer Sachvortrag nebst Beweisantritt durch Vernehmung des Arztes vorlag. Das ist – wenn nicht besondere Umstände im Mandatsverhältnis vorliegen – ein Haftpflichtfall für den Prozessbevollmächtigten. Denn das BAG führt ausdrücklich aus, dass auch nach einem gerichtlichen Hinweis kein weiterer Beweisantritt erfolgte. Zuletzt ist auch die Diagnose eine „Steilvorlage”. Sie lautet: „Nicht näher bezeichnete körperliche Beschwerden, die nicht auf eine organische Krankheit zurückgehen und von denen man annimmt, dass sie seelisch verursacht sind (ICD-Code F 45.9, sog. somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet).
Zuletzt führt das BAG auf der Linie der st. Rspr. weiter aus, es sei zulässig, im Arbeitsvertrag zu vereinbaren, dass eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits für den ersten Tag krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit beigebracht werden muss.
Hinweise:
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Will der Arbeitnehmer den Beweis durch Vernehmung des Arztes führen, muss er diesen als (sachverständigen) Zeugen benennen und – so das BAG – von der Schweigepflicht entbinden. Das BAG äußert Zweifel, ob die Entbindung von der Schweigepflicht konkludent in der Benennung als Zeuge liegen kann. Zutreffend verweist der Senat auf den höchstpersönlichen Charakter der ärztlichen Schweigepflicht. Aus unserer Sicht kann die Frage dahinstehen. Das Gericht erscheint jedenfalls verpflichtet im Wege des Hinweises nach § 139 ZPO nachzufragen: (1) Ob eine Entbindung gewollt ist und (2) ob diese vom Rechtsträger stammt (so BAG, Urt. v. 8.5.2014 – 2 AZR 75/13, NZA 2014, 1356 Rn 33). |
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Besteht ein Betriebsrat, so unterliegt die gesetzlich in § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG geregelte Befugnis des Arbeitgebers zur generellen früheren Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (st. Rspr. BAG, Beschl. v. 25.1.2000 – 1 ABR 3/99, NZA 2000, 665 Leitsatz und Rn 26 ff.; zu § 3 LFZG bereits obiter dictum: BAG, Urt. v. 27.6.1990 – 5 AZR 314/89, NZA 1991, 103 Rn 25). Das Mitbestimmungsrecht umfasst auch die Fragen des „ob” und „wie” der Vorlage (BAG, Beschl. v. 23.8.2016 – 1 ABR 43/14 Rn 16). |
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Allerdings steht es im freien – auf Willkürfreiheit und Diskr... |