Zu berichten ist hier über eine erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde, die u.a. auf die Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) gestützt wurde (BSG, Beschl. v. 30.3.2017 – B 2 U 181/16 B, ASR 2017, 169).

Der Kläger behauptete einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den bei ihm bestehenden psychoreaktiven Gesundheitsstörungen und dem Unfallereignis. Der erstinstanzlich beauftragte Sachverständige bejahte dies, weshalb das SG der Klage im Wesentlichen stattgab. Die Beklagte legte im Berufungsverfahren eine beratungsärztliche nervenärztliche Stellungnahme vor, die zum gegenteiligen Ergebnis kam. Unter Hinweis auf diese Stellungnahme und mit der Begründung, das erstinstanzlich eingeholte Gutachten sei im Ergebnis nicht überzeugend, hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Dem zu Protokoll erklärten, also bis zuletzt aufrecht erhaltenen Beweisantrag des Klägers, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen zur Frage der Ursächlicheit des Arbeitsunfalls für das bestehende psychische Krankheitsbild, ist das LSG nicht gefolgt – ohne hinreichende Begründung, wie das BSG entschieden hat.

Dabei ist nach Auffassung des BSG unerheblich, ob das LSG die Ablehnung des Beweisantrags hinreichend begründet hat. Allein kommt es darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen. Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn

  • es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt (Unerheblichkeit des Beweismittels),
  • diese Tatsache (zugunsten des Beweisführenden) als wahr unterstellt werden kann,
  • das Beweismittel unzulässig, völlig ungeeignet oder unerreichbar ist,
  • die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder
  • die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist.

Die Ablehnung des Beweisantrags, weil das Fehlen des behaupteten Ursachenzusammenhangs aufgrund des Verwaltungsgutachtens bereits erwiesen sei, genügt diesen Anforderungen nicht und rechtfertigt die fehlende Zuziehung eines weiteren Sachverständigen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet nicht.

Zwar können Verwaltungsgutachten im Wege des Urkundenbeweises (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 415 ff. ZPO) verwertet werden und auch alleinige Entscheidungsgrundlage sein. Dies setzt einmal voraus, dass das Verwaltungsgutachten in Form und Inhalt den Mindestanforderungen entspricht, die an Sachverständigengutachten zu stellen sind. Ferner muss das LSG im Rahmen von § 128 Abs. 1 S. 2 SGG erkennen lassen, dass es das Verwaltungsgutachten gerade nicht als Sachverständigengutachten verwertet hat und ihm die Besonderheiten des Urkundenbeweises bewusst gewesen sind, zu denen beispielsweise die fehlende Verantwortlichkeit des Gutachters gegenüber dem Gericht (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG; §§ 404a, 407a ZPO), die fehlende Strafandrohung (§ 153 ff. StGB) und die fehlende Möglichkeit der Beeidigung (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG; § 410 ZPO), das fehlende Ablehnungsrecht (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG; § 406 ZPO) und insbesondere das fehlende Fragerecht (§§ 116 S. 2, 118 Abs. 1 S. 1 SGG; §§ 397, 402, 411 Abs. 4 ZPO; § 62 SGG) zählen. Auf alle diese Aspekte ist das Berufungsgericht nach Auffassung des BSG nicht (hinreichend) eingegangen.

 

Hinweis:

Zum notwendigen Inhalt der Beschwerdebegründung, mit der Verstöße gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) gerügt werden s. auch BSG, Beschl. v. 27.6.2017 – B 5 R 38/17 B. Im dortigen Fall blieb die Nichtzulassungsbeschwerde aufgrund unzureichender Begründung erfolglos.

Ferner hat der 9. Senat des BSG im Berichtszeitraum entschieden, bei zwei sich widersprechenden Gutachtenergebnissen bestehe nicht generell eine Verpflichtung zu Einholung eines sog. Obergutachtens, sondern nur dann, wenn das Gericht sich keinem der bereits vorliegenden Gutachten anschließen kann (BSG, Beschl. v. 16.2.2017 – B 9 V 48/16 B, Rn 13).

Autoren: Dr. Ulrich Sartorius, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeits- und Sozialrecht, Breisach, und Prof. Dr. Andreas Pattar, Hochschule für öffentliche Verwaltung, Kehl

ZAP F. 18, S. 29–42

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge