Vielleicht erinnert sich die geneigte Leserschaft an meine in ZAP 11/2021 (S. 523) veröffentlichten Zeilen zum „Rechtsstaat auf dem Pandemieprüfstand”, die mit den Worten begannen: „Seit über einem Jahr leben wir in einer Ausnahmesituation, die wir uns in unseren schlimmsten Träumen nicht hätten ausmalen können. Wie ein Schreckgespenst streift Corona – COVID-19 oder SARS-CoV-2 – durch die Welt und verbreitet Verunsicherung, wenn nicht gar Furcht und Schrecken”.
Liebe Leserinnen und Leser, was soll man nun sagen? Wir finden uns in gleicher Lage wieder. Wobei man strenggenommen sagen müsste, dass wir uns in einer noch viel dramatischeren Lage befinden. Insgesamt werden laut Medien Rekordzuwächse bei den Neuinfektionen verzeichnet. Sie gestatten mir die Anmerkung, dass ich persönlich das Wort Rekord im Zusammenhang mit Inzidenzen und Infektionen eher unglücklich finde. Gleichwohl entspricht es den Tatsachen.
Ich möchte Sie jedoch nicht mit Fakten langweilen, die hinlänglich bekannt sind. Wir sollten vernünftig sein, die jeweils geltenden Regeln beachten und die Hoffnung nicht verlieren. Aus eben diesem Grunde möchte ich mich diesmal ganz bewusst nicht der Corona-Krise und dem Rechtsstaat in der Pandemie, sondern – ganz virenfrei – dem Ausblick auf das noch so unberührt vor uns liegende Jahr 2022 widmen. Ein neues Jahr will erobert werden. Und wie immer gilt: Neues Jahr, neue Chancen und hoffentlich: Neues Glück!
Während ich diese Zeilen verfasse, bildet sich gerade eine neue Regierung. Es wird spannend, welche Themen priorisiert angepackt werden sollen. Erste Hinweise gibt der gerade vor mir liegende Entwurf des Koalitionsvertrags, der noch bestätigt werden muss. Was aus Sicht der Bundesrechtsanwaltskammer dringend angegangen werden müsste und was der Koalitionsvertrag erahnen lässt, verrate ich Ihnen gern:
Seit geraumer Zeit setzt sich die BRAK für eine Neuauflage des Pakts für den Rechtsstaat ein – unter Einbeziehung der Anwaltschaft! Diese Forderung haben wir bereits zum jetzigen Zeitpunkt gegenüber der künftigen Regierung wiederholt. Anlass für unsere beinahe schon penetrant anmutende wiederholte Forderung war nicht zuletzt die Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 11. und 12.11.2021. Zwar hatten wir bereits im Sommer 2021 ein Positionspapier zur Ausgestaltung einer Neuauflage des Pakts für den Rechtsstaat veröffentlicht, da eine Erweiterung aus Sicht der BRAK dringend erforderlich war und ist, um die Justiz in personeller und technischer Hinsicht zukunftssicher aufzustellen. Dies allerdings nur unter Berücksichtigung und Einbeziehung der Anwaltschaft, die als größte Berufsgruppe im Rechtswesen Garant für den Zugang zum Recht ist. Diese Forderungen hatte die BRAK bereits weiter konkretisiert und einen Digitalpakt – auch diesen unter ausdrücklicher Einbeziehung der Anwaltschaft – als Bestandteil des neuen Pakts vorgeschlagen. Wir sind Teil der Justizfamilie in unserem Rechtsstaat und haben einen Anspruch auf Einbeziehung. Immerhin ließ auch der Koalitionsvertrag nun hoffen, dass sich in dieser Richtung etwas tun werde. Leider scheinen sich jedoch die neuen Pläne lediglich auf die Justiz zu beziehen, ohne die Anwaltschaft zu erwähnen oder einzubinden.
Was wird sonst noch „virulent” in 2022? Ganz klar: Digitalisierung! Die Anwaltschaft hat einen enormen Digitalisierungsvorsprung vor der Justiz. Wir sollten den Vorsprung weiter ausbauen, die Justiz muss weiter aufholen. Ab 1.1.2022 ist die Nutzung des beA für die Anwaltschaft verpflichtend. Viele von uns betrifft das kaum, denn wir nutzen das beA schon lange mit viel Routine. Die Justiz wird hoffentlich bald den Anschluss schaffen, damit der elektronische Rechtsverkehr flächendeckend gelingen kann.
Das mit der Digitalisierung verbundene Potenzial muss dafür genutzt werden, den Zugang zum Recht für alle gleichermaßen zu sichern und zu stärken. Die Vereinfachung von Verwaltungsprozessen durch digitale Lösungen fördert nicht nur Bürokratieabbau, sondern erleichtert Rechtsuchenden zugleich den Zugang zu den Gerichten. Ein Angebot digitaler Konzepte für Bürger setzt allerdings zwingend voraus, dass der elektronische Rechtsverkehr flächendeckend funktioniert. Um die Vorteile digitaler Technologien für die rechtsuchenden Bürger tatsächlich nutzbar zu machen, bedarf es damit also zunächst einer leistungsfähigen digitalen Infrastruktur. Auch dies sieht der Koalitionsvertrag nun vor. Es muss ebenfalls gewährleistet sein, dass alle Bürger die Angebote der Justiz sicher und datenschutzkonform nutzen können. Unverzichtbar ist zudem, dass Rechtsuchende in jeder Lage des Verfahrens einen Rechtsanwalt/eine Rechtsanwältin hinzuziehen können, so sie dies wünschen und digitale Lösungen auch durch die Anwaltschaft für ihre Mandanten nutzbar sind. Es sind freie und unabhängige Anwälte und Anwältinnen, die den Zugang zum Recht sichern! Jeder Ausschluss der Anwaltschaft aus digitalen Verfahren gefährdet diesen Zugang.
Wir haben uns daher intensiv mit diesem Thema be...