1. Anfechtungssachen, aufschiebende Wirkung
§ 86a Abs. 1 statuiert den Grundsatz der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage. Dies gilt nach S. 2 der Norm auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden VAen sowie bei VAen mit Drittwirkungen. Nach ihrem klaren Wortlaut gilt die Vorschrift nur für Anfechtungsbegehren, also nicht für Widersprüche und Klagen, mit denen vom Leistungsträger der Erlass eines VA, oder ein sonstiges Tun und Unterlassen begehrt wird (sog. Vornahmesachen); in diesen Fällen kommt vorläufiger Rechtsschutz nur durch eine einstweilige Anordnung in Betracht (§ 86b Abs. 2). Eine ausführliche Darstellung mit Beispielen und Mustern findet sich bei Krodel/Cantzler, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 5. Aufl. 2022.
Von dem vorgenannten Grundsatz des § 86a Abs. 1 abweichend sehen § 86a Abs. 2 und Abs. 4 S. 1 Fallgestaltungen vor, in denen die aufschiebende Wirkung entfällt. § 86a Abs. 2 erfasst insb.:
- Entscheidungen über Versicherungs- und Beitragspflichten, die Anforderung von Beiträgen, Umlagen (Nr. 1),
- Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrecht und der Bundesagentur für Arbeit bei VA, die eine laufende Leistungen entziehen oder herabsetzen (Nr. 2),
- für die Anfechtungsklage in Angelegenheiten der Sozialversicherung bei VA, die eine laufende Leistungen herabsetzen oder entziehen (Nr. 3),
- in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen (Nr. 4), s. hierzu HdB-SGG/Groth, Kap. V Rn 20 ff.
Zum vorläufigen Rechtsschutz in Fällen der Existenzsicherung im SGB II – dort dann, wenn die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II während des Bewilligungszeitraums vollständig oder teilweise aufgehoben wird, Widerspruch und Anfechtungsklage haben nach § 39 Nr. 1 SGB II grds. keine aufschiebende Wirkung – s. HdB-SGG/Groth, Kap. V Rn 34a–c.
Gleichwohl ist es möglich, auch dann, wenn aufschiebende Wirkung nach obigen Ausführungen nicht besteht, diese Wirkung wiederherzustellen bzw. anzuordnen:
Nach § 86a Abs. 3 ist der Behörde, die den VA erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die Möglichkeit eingeräumt, von Amts wegen oder auf Antrag die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise wieder auszusetzen.
Ferner kann das Gericht der Hauptsache – vor Klageerhebung das Gericht, das zuständig wäre, danach das mit der Sache befasste Gericht, ggf. also auch das LSG bzw. BSG (s. M-L/K/L/S/Keller, SGG § 86b Rn 11) – auf Antrag – ggf. auch vor Klageerhebung (§ 86b Abs. 3) – die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2; Muster m. Anm. HdB-SGG/Groth, Kap. V Rn 57) bzw. gem. Nr. 3 (Muster m. Anm. s. Beck’sches Prozessformularbuch VIII. Nr. 27) in den Fällen des § 86a Abs. 3 die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise wiederherstellen. Auf Antrag kann die gerichtlich getroffene Maßnahme jederzeit geändert oder aufgehoben werden (§ 86b Abs. 1 S. 4). Bei späterem Obsiegen in der Hauptsache hat die Behörde im Hinblick auf die daraufhin zunächst erbrachte Zahlung ggf. einen Erstattungsanspruch gem. § 50 Abs. 2 SGB X analog (näher M-L/K/L/S/Keller, SGG § 86b Rn 22 m.w.N.).
Ergänzt wird die Vorschrift des § 86a durch § 154 Abs. 1, der bestimmt, dass Berufung und die Nichtzulassungsbeschwerde gem. § 145 Abs. 1 (versehentlich stellt § 154 Abs. 1 auf § 144 ab) aufschiebende Wirkung – im Sinne einer Hemmung der Vollstreckbarkeit der erstinstanzlichen Entscheidung – haben, soweit die Klage nach § 86a Aufschub bewirkt.
2. Einstweilige Anordnung, Vornahmesachen
In Ergänzung des vorläufigen Rechtsschutzes in Anfechtungssachen ist dann, wenn Berechtigte ein Tätigwerden der Verwaltung anstreben, vorläufiger Rechtsschutz über die in § 86b Abs. 2 geregelte einstweilige Anordnung möglich. Nach S. 1 und 2 der Vorschrift kann diese erlassen werden,
- wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung der Rechte der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung) oder
- zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (sog. Regelungsanordnung; Muster mit Anm. s. HdB-SGG/Groth, Kap. V Rn 59 und Beck’sches Prozessformularbuch VIII. Nr. 28 f.).
Die wesentlich größere Bedeutung hat in der Praxis die Regelungsanordnung, die neben einem Anordnungsanspruch einen Anordnungsgrund erfordern, der voraussetzt, dass den Betroffenen das Ergehen der Entscheidung in der Hauptsache wegen zwischenzeitlich drohender, irreparabler Nachteile nicht abgewartet werden kann. Bei der Beurteilung ist grds. auf die Bewertung der Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens abzustellen. Im Hinblick auf das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) gilt aber: Drohen den Rechtsuchenden ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (wie regelmäßig in Fällen der Existenzsicherung), so dürfen sich die Fachgerichte nur dann an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, wenn sie die Sach- und Rechtslage nicht nur su...