In der Prozesspraxis gibt es zwei große Dauerbaustellen. Beide hängen damit zusammen, dass die Sachaufklärung verweigert oder abgebrochen wird, um „kurzen Prozess” zu machen.
Die eine Dauerbaustelle ist der Umgang mit der Substantiierung und der gerichtlichen Behauptung der mangelnden Substantiierung, um Beweisangeboten nicht nachgehen zu müssen.
Weil das Problem so wichtig ist und das Rechtsprechungszitat so markant, soll es hier nochmals wiederholt werden:
„Die Auffassung einzelner Gerichte, der Klagevortrag sei unsubstantiiert, weil der Kläger nicht angegeben habe, wer – wann – wo – mit wem – warum usw. etwas getan oder unterlassen habe, ist falsch, war immer falsch, findet in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes keine Stütze, ist aber bisher nicht auszurotten.”
(OLG Köln, Beschl. v. 4.2.1999 – 19 W 4/99, NJW-RR 1999, 1155; OLG München, Urt. v. 19.11.1999 – 23 U 4502/99, MDR 2000, 1395 mit zust. Anm. Schneider und ebenso BGH, Urt. v. 27.3.2009 – V ZR 196/08, NJW 2009, 2132). Deutlich auch:
„Ein Beweisantritt für eine bestimmte rechtserhebliche Tatsache bedarf nicht der Angabe zusätzlicher, erst für die Beweiswürdigung relevanter Begleitumstände (z.B. "wo, wann, gegenüber wem")”
(BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/03, NJW-RR 2007, 1483 f.).
Die zweite Dauerbaustelle, die zahlenmäßig zwar weniger ins Gewicht fällt, aber dennoch ein Problem darstellt, ist die Verweigerung der Sachaufklärung durch Nichteinholung eines Gutachtens.
Ein markantes Beispiel zeigt der Beschluss des BGH v. 25.10.2023 – VII ZR 17/23. Das Berufungsgericht hatte aufgrund eigener Sachkunde eine Architektenleistung bewertet. Das Gericht stellte fest, dass aus den vorgelegten Unterlagen (Ausführungs-, Detail- und Konstruktionszeichnungen) nicht deutlich werde, dass es sich dabei um eine vollständige Ausführungsplanung mit allen für die Ausführung notwendigen Einzelangaben (zeichnerisch und textlich) auf der Grundlage der Entwurfs- und Genehmigungsplanung bis zur ausführungsreifen Lösung als Grundlage für die weiteren Leistungsphasen handele, denn es fehle der Nachweis, dass die von dem klagenden Architekten erstellten Ausführungspläne so detailliert ausgearbeitet und vermessen gewesen seien, dass aus den Zeichnungen die Mengen und Massen hätten ermittelt werden können, um damit die jeweiligen Bauleistungen umsetzen zu können.
Dass der Kläger die vollständigen Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht habe, hatte er unter Sachverständigenbeweis gestellt, worüber das Gericht kraft eigener Sachkunde hinweggegangen ist. Dass dies eine Frage ist, die Fachwissen voraussetzt und deren Klärung einem Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zugänglich ist, versteht sich von selbst.
Dementsprechend beinhaltet der Aufhebungsbeschluss des BGH auch keine Neuigkeiten, sondern referiert die ständig verwendete Formel, dass die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstößt, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Dann beruht die Entscheidung auf einer unzureichenden Sachaufklärung (§ 286 ZPO), die zugleich das rechtliche Gehör des Klägers verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG).
Wichtig ist daher bei Fachfragen, die ohne sachverständige Beratung gerichtlich beantwortet werden:
- Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf der Tatrichter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag.
- Das Gericht muss, wenn es bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen. Allerdings: Bei einem Kollegialgericht ist es ausreichend, wenn nur ein Mitglied diese Kenntnis hat (vgl. BGH, Urt. v. 10.7.1958 – 4 StR 211/58, BGHSt 12, 18 ff.).
- Eigene Sachkunde kann auch aus einem in einem anderen Verfahren erstatteten Gutachten kommen, welches als Urkundenbeweis verwertet wurde (vgl. BGH, Urt. v. 8.11.1994 – VI ZR 207/93, NJW 1995, 1294).
Die o.g. Entscheidung ist noch aus einem anderen Grund lehrreich, denn sie zeigt, dass ein Antrag auf Gewährung einer Schriftsatzfrist aufgrund eines überraschenden Hinweises erstmalig in der Verhandlung notwendig ist, um einen Gehörsverstoß zu vermeiden. Der dortige Kläger hatte einen solchen gestellt, sodass sich durch das Übergehen ein weiterer Gehörsverstoß ergeben hatte. Allerdings dürfte es nicht wenige Kollegen geben, die einen solchen Antrag übersehen hätten.
Skurril wirkt der Fall, weil das Berufungsgericht seine Rechtsansicht erstmalig in der Verhandlung geändert hatte, aber meint: „Der Senat führt hierzu aus, dass er allein rechtliche Ausführungen gemacht habe, es sich hingegen nicht um rechtliche Hinweise handle”, sodass deswegen keine Schriftsatzfrist zu gewähren sei.
Das ist freilich abwegig, denn auch bei einer geänderten rechtlichen Einschätzung hätte das Berufungsgericht dem Kläger Geleg...