Der Begriff "Macht" wird selten definiert. Dennoch wird die Definition von Macht als Möglichkeit, mit seinem Willen das Verhalten anderer Menschen zu steuern, Zustimmung erhalten. Hiernach gibt es drei Formen der Macht. Die kompensatorische Macht sichert die Unterwerfung durch Belohnung, während die konditionierte Macht die Unterwerfung durch Überredung und Überzeugung hervorruft. Gerichte verkörpern die sog. repressive Macht, d.h. die Fähigkeit, die individuellen oder kollektiven Präferenzen eines Einzelnen oder einer Gruppe mit derart unangenehmen oder schmerzhaften Gegenmaßnahmen zu belegen, dass die Betroffenen ihre Präferenzen aufgeben (vgl. Galbraith, Anatomie der Macht, S. 17, 28, 40).
Diese o.g., auf Max Weber (1864–1920) zurückgehende Definition bedeutet, dass die Macht je größer ist, desto mehr Erfolg sie hat (vgl. Galbraith, a.a.O., S. 14). Danach muss die Macht der Gerichte besonders groß erscheinen, denn durch den im Urteil verkündeten Ausspruch kann sich die gesamte Macht des Staates zu dessen Erzwingung in Bewegung setzen.
Macht ist in der modernen Gesellschaft unvermeidlich und notwendig. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob angesichts dieser großen Macht der Gerichte als erforderliche Kehrseite (genügend) Vorkehrungen gegen einen Machtmissbrauch durch Gerichte existieren.
Wer die Frage oberflächlich betrachtet, wird sie bejahen, denn schließlich gibt es mindestens eine zweite gerichtliche Instanz zur Kontrolle. Nachdem jeder Rechtsstreit ein Ende haben muss, kann (vielleicht) mehr als eine einmalige Kontrolle nicht verlangt werden.
Wer die Praxis kennt und die Frage genauer betrachtet, muss sie aber verneinen. Bei Strafprozessen, die beim Landgericht beginnen, stellt der BGH die Kontrollinstanz dar. Diese liefert jedoch im Bereich der Tatsachenfeststellung und Würdigung, also der fehlerträchtigsten Materie eines jeden Prozesses, nur eine Simulation einer gerichtlichen Kontrolle, denn die Revision kann und soll diesen Bereich gar nicht kontrollieren (vgl. Paeffgen/Wasserburg, Geheimnisse des Systems der Kontrolle, GA 2012, 535 ff.). Auch im Zivilprozess existiert keine ausreichende Kontrolle durch den BGH. Selbst ein sachlich falsches Urteil wird vom BGH nicht aufgehoben, sofern nicht der Ausnahmefall vorliegt, dass die Revision zugelassen worden ist oder Zulassungsgründe vorliegen (§ 543 ZPO).
Auch sonst ist der Strafprozess durch die Vorbefassung der Richter (Haftbefehl, Eröffnungsbeschluss) und international fast einmaligen Verflechtung von Staatsanwaltschaft und Richterschaft gerade nicht von Waffengleichheit geprägt, sondern zu Lasten des Angeklagten durch Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekte verschoben (vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl., § 69).
Auch der Zivilprozess ignoriert unbestreitbare Erkenntnisse der Sozialpsychologie, wenn z.B. angenommen wird, dass die Unvoreingenommenheit des Richters nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht schon dadurch gefährdet sei, dass sich der Richter schon früher zu demselben Sachverhalt ein Urteil gebildet habe (vgl. BGH, Beschl. v. 18.12.2014 – IX ZB 65/13). Der Gesetzgeber mag so gedacht haben, sachlich ist es schlicht falsch. Auch die Kontrolle durch die Berufungsinstanz mit der Möglichkeit der Beschlusszurückweisung (§ 522 Abs. 2 ZPO) ist allein schon wegen des damit verbundenen Anreizes zur eigenen Arbeitsökonomie a priori verfehlt. Es stellt sicher keinen falschen Praxisbefund dar, wenn behauptet wird, dass der Berufungsrichter vorwiegend nach Gründen sucht, um das Urteil zu halten, statt nach Gründen, um es aufzuheben. Nötig wäre aber ein gleichmäßiges Suchen nach Gründen dafür und dagegen. In kaum einem Kollegialgericht wird einem Mitglied die Figur des advocatus diaboli zugeschrieben, die nach Erkenntnissen der Sozialpsychologie aber dringend erforderlich wäre (vgl. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., Rn. 307).
Wenn sogar Richter des BGH der Rechtsprechung, "eine bornierte Hemmung, sogar Allgemeingut der popularisierten Kommunikationswissenschaft zur Kenntnis zu nehmen", attestieren (Fischer/Krehl, Strafrechtliche Revision, "Vieraugenprinzip", gesetzlicher Richter und rechtliches Gehör, StV 2012, 550, 555), stellt sich die Frage, warum die über 160.000 Anwälte unter Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG (effektiven Rechtsschutz) keine Korrekturen durchsetzen. Die Frage wird umso dringlicher, als entgegen früheren Jahren Persönlichkeit und Eigentum/Besitz nicht mehr die entscheidenden Quellen der Macht sind, sondern nunmehr die "Organisation" die entscheidende Machtquelle geworden ist (vgl. Galbraith, a.a.O., S. 58, 68 f., 75, 77).
Während Gerichte repressive Macht haben, können Anwaltsorganisationen nur konditionierte Macht ausüben. Auch wenn politische Macht in den Demokratien des 20. Jahrhunderts weitgehend aus konditionierter Macht besteht (vgl. Galbraith, a.a.O., S. 45, 95, 193): Die Anwaltschaft macht davon kaum Gebrauch. Nur durch konditionierte Macht hat sich z.B. erreichen lassen, dass Frauen da...