Streitgegenständlich war das laufende und zwischenzeitlich mehrfach verlängerte EZB-Programm zum Kauf von Staatspapieren der Euro-Länder, "Public Sector Purchase Programme" (PSPP). Die Käufe begannen im März 2015, um ein Abrutschen der Wirtschaft im Euro-Raum in eine Deflation zu verhindern. Mittlerweile wurden Staatspapiere für rund 2,2 Billionen Euro aufgekauft.
Das BVerfG hatte bereits vorher Bedenken, ob die Käufe noch in den Kompetenzbereich der Euro-Notenbank fallen, und es sah "gewichtige Gründe" dafür, dass die Käufe gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstoßen; deshalb hatte das BVerfG dem EuGH mehrere Fragen zur Beantwortung vorgelegt. Der EuGH hat sich über die Bedenken hinweggesetzt und konnte nicht erkennen, dass die EZB ihr Mandat überschreitet. Das sieht das BVerfG nun anders, verlangt aber nicht, das Anleihekaufprogramm zu unterlassen. Auch macht es keine inhaltlichen Vorgaben. Verlangt wird lediglich ein Nachweis, dass das Programm noch innerhalb des Mandats der EZB ist.
Lars Klenk, FAZ v. 21.5.2020, sieht durch das Karlsruher EZB-Urteil den EuGH herausgefordert. In der Rechtswissenschaft stehen die Urteile des EuGH seit Langem in der Kritik. Vor allem in der Euro- und der Staatsschulden-Krise sei erschwerend hinzugetreten, dass die Luxemburger Richter ihr politisches Gespür nicht mehr ausspielen können. Solche Krisen verlangen eine sofortige Reaktion, die ein Gerichtsurteil nicht liefern kann. Der Gerichtshof kann daher nicht mehr selbst die politische Agenda bestimmen. Er war und ist darauf beschränkt, die Entscheidungen abzunicken, die andere Organe getroffen haben, seien es die Regierungschefs oder die EZB. Indem er sie großzügig durchwinkte, wurde der EuGH für die jeweilige Politik und ihre Schwächen mitverantwortlich gemacht. Die Luxemburger Richter seien entweder nicht willens oder nicht in der Lage, ihre Urteile ausreichend zu begründen – eine vernichtende Bilanz.
Rainer Hank sieht es in der FAS v. 17.5.2020 so: Der EuGH benimmt sich, als sei er das oberste Gericht eines europäischen Bundesstaats, dem gegenüber alle nationalen Verfassungsinstanzen der EU-Mitgliedsländer nachgeordnete Behörden und zum Stillschweigen verurteilt wären, nachdem das oberste europäische Gericht geurteilt hat. Wir dulden keine nationalen Extrawürste, so heißt der dahinterstehende Befehl. Karlsruhe hingegen dreht den Spieß um: Das BVerfG versteht sich als Anwalt des deutschen Volkes. Dieses ist der Souverän, dem gegenüber Brüssel lediglich eine abgeleitete Autorität hat.
Diese beiden beispielhaft herangezogenen Meinungen verdeutlichen, worum es eigentlich geht: die mangelnde demokratische Legitimation der EU-Institutionen. In dieses Bild passt, dass die EZB das Urteil des BVerfG ignorieren will und Ursula von der Leyen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik erwägt. Es ist offensichtlich, dass hier einigen die Pferde durchgehen. Der Berichterstatter des Verfahrens, Peter Michael Huber (Professor für Europarecht in München) warnte im Focus v. 13.5.2020 vor einer Missinterpretation des Karlsruher Urteils durch die EZB: Dies sei eine "geradezu homöopathische" Botschaft an die EU. Gleichwohl kritisiert er Kommissionspräsidentin von der Leyen und stellt klar: EU-Recht gilt nicht immer und uneingeschränkt. Die EZB solle sich nicht als Master of the Universe sehen. Das Vernünftigste wäre seiner Meinung nach, den Ball flach zu halten und zu überlegen, ob das Urteil nicht doch ein paar richtige Punkte enthält.
Die Kritiker des Urteils sehen v.a. ein unvollständiges und falsches Verständnis von Geldpolitik durch das BVerfG. Deutschland begebe sich in einen potenziell gefährlichen Konflikt mit Europa, der aus ökonomischer Sicht völlig unnötig sei, und der Streit bedrohe zudem die europäische Rechtsgemeinschaft. Gerügt wird auch die Auswahl der vom BVerfG ausgewählten herangezogenen Sachverständigen, zwei Wirtschaftsprofessoren von angeblich zweifelhaftem wissenschaftlichen Ruf und fünf Vertreter von Banken und Versicherern. Auch der Umstand, dass das BVerfG als Quelle u.a. den Bundesverband öffentlicher Banken angibt, wird kritisiert.
Neben dem politischen Moment hat das Urteil aber auch einen sehr interessanten juristischen Aspekt. Das Gericht hat erstmalig in seiner Geschichte nach einer Ultra-vires- oder Identitätskontrolle einen Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung festgestellt.