Wie kürzlich bekannt wurde, plant die Große Koalition offenbar im Strafprozess einen „Freispruch unter Vorbehalt”: Noch in dieser Legislaturperiode soll ein weiteres Gesetzgebungsvorhaben realisiert werden, demzufolge nach einem Freispruch von einer Straftat, die von Gesetzes wegen nicht verjährt (Mord und Völkermord), künftig eine Wiederaufnahme zu Lasten des Freigesprochenen möglich sein soll, wenn nachträglich neue Beweismittel bekannt werden. Die bisher existenten, sehr eng gefassten Gründe zur Wiederaufnahme sollen damit um einen weiteren Punkt ergänzt werden.
Nach derzeitiger Rechtslage ist die Wiederaufnahme zum Nachteil des Verurteilten (§ 362 StPO) nur in Härtefällen möglich, wenn sich etwa herausstellt, dass eine zugunsten des Angeklagten vorgebrachte Urkunde gefälscht war oder der Freigesprochene selbst später noch ein Geständnis über seine Tat ablegt. Nur dann kann dem Freigesprochenen doch noch ein weiteres Strafverfahren über dieselbe Tat drohen. Die Gründe für diese eingeschränkte Wiederaufnahmemöglichkeiten liegen in der Verfassung, insb. im sog. Verbot der Doppelbestrafung.
Nun soll noch ein weiterer Grund hinzukommen: Auch wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt, soll die Justiz das Verfahren erneut aufnehmen können. Allerdings soll diese Möglichkeit auf Fälle von Mord oder einem Tötungsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch, für das mit lebenslanger Freiheitsstrafe gedroht wird, beschränkt werden. Bereits im Koalitionsvertrag hatte sich die Große Koalition auf ein solches Vorhaben verständigt. Darin heißt es: „Wir erweitern die Wiederaufnahmemöglichkeiten zu Ungunsten der oder des freigesprochenen Angeklagten in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten”.
Wie Pressemeldungen zu entnehmen war, ist das jetzige Gesetzesvorhaben allerdings ohne Mitwirkung des Bundesjustizministeriums und sogar gegen dessen Rat zustande gekommen. Der Grund für die Zurückhaltung des BMJV dürften die äußerst schwierigen verfassungsrechtlichen Fragen sein, die sich bei einer weiteren Aufweichung des Doppelbestrafungsverbots stellen. Aus diesem Grund gab es auch sogleich nach Bekanntwerden des Gesetzentwurfs heftige Einwände von Seiten der Anwaltsverbände. So warnte der Deutsche Anwaltverein (DAV) vor der geplanten Änderung der StPO: „Das Grundgesetz hat sich im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit eindeutig für die Rechtskraft entschieden”, erläuterte RA Stefan Conen vom DAV. „Das Doppelbestrafungsverbot in Art. 103 Abs. 3 GG verbietet nach allgemeiner Auffassung auch die Doppelverfolgung nach einem Freispruch. Für einen 'Freispruch light' unter dem Vorbehalt späterer besserer Erkenntnis gibt es insofern keinen Raum – und dies schon gar nicht rückwirkend.”
Auch die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) kritisierte das Vorhaben und warnte vor einem „Paradigmenwechsel im Hau-Ruck-Verfahren”. Die Kammer stößt sich insb. an der mangelnden Beteiligung der Verbände: „Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb nach aller Kritik zur unzureichenden Verbändeanhörung im Rahmen der Krisengesetzgebung nun auch bei Gesetzentwürfen ohne Corona-Bezug an den Rechtsanwendern als Experten, also der Anwaltschaft, vorbei agiert wird”, empörte sich etwa die Vizepräsidentin der BRAK, Ulrike Paul.
[Quellen: DAV/BRAK]