(BVerfG, Beschl. v. 28.4.2022 – 1 BvL 12/20) • Aktuell bewohntes Wohneigentum ist durch Art 14 Abs. 1 GG auch als Mittelpunkt der privaten Existenz (Lebensmittelpunkt) geschützt (vgl. BVerfG v. 26.5.1993, 1âEUR™BvR 208/93, BVerfGE 89, 1 [6]; BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvR 3139/08, BVerfGE 134, 242 [331, Rn 270]).
Art 6 Abs. 1 GG garantiert das Zusammenleben der Familienmitglieder und die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden (vgl. BVerfG v. 19.2.2013 – 1âEUR™BvL 1/11, BVerfGE 133, 59 [84, Rn 67]).
Bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, hat der Gesetzgeber grds. einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in welchem Umfang das Vermögen des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet wird (vgl. BVerfG v. 2.2.1999 – 1 BvL 8/97, BVerfGE 100, 195 [205]; s.a. BVerfG v. 23.1.1990 – 1 BvL 44/86, BVerfGE 81, 156 [206]). Die Regelung des § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 i.V.m. S. 2 SGB II, die selbst bewohntes Wohneigentum nur bei aktuell angemessener Größe vor einer Verwertung schützt, unterscheidet nicht nach der familiären Vorgeschichte des Wohneigentums, mithin einer eventuellen früheren Angemessenheit aufgrund der Nutzung durch Eltern mit ihren Kindern. Diese Regelung verlangt damit faktisch von Eltern eher als vonâEUR™einem Paar, das von vornherein ohne Kinder in Wohneigentum lebt, den Lebensmittelpunkt aufzugeben. Dies müsste durch einen hinreichend gewichtigen Zweck getragen sein, der über das bloße Willkürverbot hinaus geht. Besonders strenge Anforderungen sind allerdings auch hier nicht zu stellen. Strengere Anforderungen an die Rechtfertigung ergeben sich auch nicht unmittelbar aus dem Familiengrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG. Es fehlt an einem direkten Eingriff, weil die Kinder das elterliche Haus in der hier relevanten Konstellation bereits verlassen haben.
Selbst wenn Eltern ein beengteres Wohnen mit ihren Kindern in Wohneigentum in Kauf nehmen sollten, um die Wohnung nicht im Bedarfsfall nach dem Auszug der Kinder verwerten zu müssen, wäre dies jedenfalls die eigene Entscheidung der Eltern, die rechtlich ihnen selbst und nicht der angegriffenen Regelung zugerechnet werden müsste. Dass § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 i.V.m. S. 2 SGB II für die Frage der Verwertungsbedürftigkeit größeren Wohneigentums nicht nach dessen familiärer Vorgeschichte differenziert, dient einem legitimen Zweck, ist geeignet und erforderlich, diesen zu erreichen, und steht zu der Belastung der Betroffenen nicht außer Verhältnis.
Das mit der Regelung verfolgte Ziel, die Gewährung staatlicher Grundsicherungsleistungen auf die Deckung des aktuellen Bedarfs zu beschränken, ist von Gewicht. Denn auch der soziale Rechtsstaat ist darauf angewiesen, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen aktuell Bedürftigkeit vorliegt (vgl. BVerfG v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BVerfGE 152, 68 [116, Rn 124]). Auf der anderen Seite werden den Betroffenen hierâEUR™nicht Leistungen verwehrt, die sie zur Existenzsicherung benötigten. Denn sie verfügen über Wohneigentum, das sie einsetzen und damit ihren Bedarf selbst sichern können.
ZAP EN-Nr. 403/2022
ZAP F. 1, S. 669–670