Die Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen, hat ein gewaltiges Beben ausgelöst. Als mögliche Gründe für den Austritt mögen u.a. die Ausgaben an die Europäische Union – Großbritannien gehört als drittgrößter Nettozahler zu den Geberländern der EU – und der vermeintlich nicht gegebene Nutzen der Mitgliedschaft eine Rolle spielen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Nichteinhaltung der Stabilitätsregeln im Euroraum, die letztendlich zur Schuldenkrise und diversen EU-Rettungsschirmen führte, für die wiederum auch Großbritannien durch Mitgliedschaft im IWF und der EU mittelbar aufkommen musste.
Für die Leser dieser Zeitschrift, Juristen, sollte für Vertragsinhalte der römische Grundsatz "pacta sunt servanda" gelten. Betrachtet man diesen Grundsatz, stellt man Erstaunliches fest. Art. 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bestimmt, dass eine Haftung der Europäischen Union sowie aller Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten einzelner Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist – es gilt die sog. No-Bailout-Klausel (Nichtbeistands-Klausel). Helmut Kohl hatte bei Ablösung der D-Mark durch den Euro gleich zweimal hintereinander, um seiner Aussage besonders viel Gewicht zu verleihen (vgl. Sinn, Der Euro, S. 29), im Deutschen Bundestag Folgendes verkündet: "Nach der vertraglichen Regelung gibt es keine Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten und keine zusätzlichen Finanztransfers" (Plenarprotokoll 13/230, 23.4.1998, S. 21054).
Allerdings ist inzwischen das exakte Gegenteil richtig. Die Vertragsbestimmung existiere nur auf dem Papier, so Karl Otto Pöhl (Präsident der Deutschen Bundesbank von 1980–1991) und meint: "So bleibt als einzige Alternative der Weg in die Transferunion, das heißt die Vergemeinschaftung der Schulden. Auf diesem Pfad sind wir unterwegs" (in dem Vorwort zu Marsh, Beim Geld hört der Spaß auf, S. 10).
Das Motiv für die No-Bailout-Regel ist einfach: Auch für einen Staat muss das Risiko der Insolvenz bestehen, denn das liefert einen Anreiz für staatlich solides Wirtschaften. Müssen Anleger nämlich das Risiko der Insolvenz ihres Schuldners einpreisen, führt dies zu umso höheren Zinsverlangen der Gläubiger an den Staat, je höher dessen Insolvenzrisiko bewertet wird. Durch immer höhere Zinsen würde die Refinanzierung auf dem Kapitalmarkt für Staaten letztendlich unmöglich, so dass dieses Risiko einen disziplinierenden Einfluss auf die eigene staatliche Haushaltsdisziplin ausüben würde. Zum anderen sollte der sog. Moral Hazard verhindert werden, d.h. die Einvernahme der Vorteile, z.B. durch Investitionen in den eigenen Konsum statt in nachhaltige Wirtschaftsgüter unter Abwälzung der negativen Folgen (Verschuldung) hieraus auf Dritte. Daher waren die Regelungen in dem sog. Stabilitäts- und Wachstumspakt auch in sich schlüssig, nachdem insbesondere die Staaten der Euro-Zone ihr jährliches Haushaltsdefizit auf 3 % ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) und den Stand ihrer öffentlichen Verschuldung auf 60 % ihres BIPs reduzieren sollten (Art. 126 AEUV; Plenarprotokoll 13/230, 23.4.1998, S. 21054 – Nr. 12). Tatsächlich ist aber z.B. die Überschreitung des 3 %-Defizits öfter vorgekommen als sie eingehalten wurde, nämlich bis zum Jahre 2014 in 156 Fällen.
Bedauerlicherweise gehören nicht nur die aktuell gescholtenen Krisenländer zu den Sündern, sondern auch Deutschland und Frankreich. Mindestens in 101 Fällen hätten Strafen verhängt werden müssen, die nur deswegen nicht verhängt wurden, weil die Richter über diese Strafen (Ecofin-Rat = Versammlung der Finanzminister der EU-Länder) faktisch in eigener Sache hätten entscheiden müssen. Denn die Richter waren gleichzeitig die Sünder, letztere als Repräsentanten der betroffenen Staaten (vgl. Sinn, a.a.O., S. 73). Das muss die Leser dieser Zeitschrift an die ähnlich ineffektive Anhörungsrüge an den iudex a quo erinnern (vgl. Reinelt, Anhörungsrüge bei nicht begründeten Zurückweisungsbeschlüssen des BGH – impossibilium (nulla?) obligatio, ZAP Kolumne 23/2013, S. 1201).
Sowohl die No-Bailout-Regel als auch Regeln zur Begrenzung der Schulden, wobei die Grenze von 60 % bzw. 3 % des BIP ökonomisch nicht zwingend ist, sind unmittelbare Konsequenzen des freien Marktes (vgl. Di Fabio, Schwankender Westen, S. 206, 213, 220). Ein Primat der Politik über die ökonomischen Gesetze kann – wie die Erfahrung mit den ehemals sozialistischen Ländern zeigt – nur begrenzt funktionieren (vgl. Sinn, a.a.O., S. 7).
Mit dem Grundsatz "pacta sunt servanda" hat die beschriebene Praxis nichts mehr zu tun. Udo Di Fabio befürchtet daher "wenn sich die erwartbare Entwicklung der EU zu einem ‚Transferverbund‘ durchsetzt, ohne dass die soziokulturellen und normativen Grundlagen gestärkt werden, droht Europa die Stagnation, Bürokratisierung und eine Abwärtsspirale permanenter Verteilungskämpfe (...). Die erheblichen Spannungen im europäischen Gefüge seit der Weltfinanzkrise und der europäischen Schuldenkrise sind die direkte Folge der Missa...