"Gott sei Dank! Nun ist's vorbei. Mit der Übeltäterei!"
So endet die 1865 erschienene Geschichte von Wilhelm Busch über die beiden "Lausbuben" Max und Moritz. Die Gesamtauflage des berühmtesten Kinderbuchs aller Zeiten geht in die Millionen. Ganze Generationen von Eltern gaben und geben ihren Kindern die gereimten Streiche zum Lesen. Manche verwenden sie sogar als Gutenachtgeschichte. Dies finde ich als Strafrechtler sehr verwunderlich und irritierend. Schließlich begehen – bei Lichte betrachtet – Max und Moritz massenhaft Straftaten. Die Beschreibung ihrer anarchischen Umtriebe besteht in Wahrheit aus einer beispiellosen Aneinanderreihung von Vergehen und Verbrechen. Menschliche Tragödien spielen sich vor unseren Augen ab. Wir haben es nicht mit der klassischen, zuweilen schnörkellosen Lehrbuchkriminalität zu tun, sondern mit anschaulich illustrierten Fällen, unter deren literarischem Gewande sich schwere Delikte zeigen. Die Eskalationsspirale bei den Streichen finde ich äußerst erschreckend. Max und Moritz verspürten auf ihrem kurzen Lebensweg richtig Spaß an ihren Bosheiten. Besonders das Stehlen und Sachbeschädigungen machten den jugendlichen Intensivtätern diebische Freude. Auch Tiere waren vor ihnen nicht sicher, wenn man an die berühmte Brotfalle für das Federvieh im ersten Streich denkt. Mag man anfangs den Lausbuben bei ihren Straßenjungen-Frechheiten nicht so recht böse sein (z.B. heimliches Herausangeln gebratener Hühner der Witwe Bolte durch einen Schornstein), muss von Streich zu Streich der Ruf nach Justitia lauter ertönen. So wird im dritten Streich der bedauernswerte Schneider Böck von Max und Moritz durch Schmährufe in der Ehre verletzt (§ 185 StGB). Außerdem locken sie ihn heimtückisch auf die von ihnen angesägte Brücke (gemeinschädliche Sachbeschädigung, § 304 StGB), wodurch er in lebensgefährlicher Weise in den schnell fließenden Bach stürzt (gefährliche Körperverletzung, §§ 223, 224 StGB). Nur durch das wundersame Ergreifen von Gänsebeinen entrinnt das Opfer dem sonst sicheren Ertrinkungstod. Unrühmlicher Höhepunkt des kriminellen Treibens von Max und Moritz ist der vierte Streich, bei dem der brave Lehrer Lämpel Opfer eines lebensbedrohlichen Sprengstoffattentats seiner schuldistanzierten Schüler wird. Die Liste der zu Lasten des Pädagogen begangenen Straftaten ist lang.
Wenn Max und Moritz nicht im Wege schlimmster Selbstjustiz von Bauer Mecke und Meister Müller durch Hineinwerfen in das Mahlwerk der Mühle grausam getötet worden wären ("Rickeracke! Rickeracke! geht die Mühle mit Geknacke", ein Mord nach §§ 212, 211 StGB), hätte die gewaltbereiten Jugendlichen ein spektakulärer Strafprozess erwartet. Auch versierten Strafverteidigern würde es kaum gelingen können, sie z.B. wegen des Angriffs auf den Pädagogen vor einer Bestrafung wegen Mordversuchs, schwerer und besonders schwerer Brandstiftung, gefährlicher Körperverletzung und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion zu bewahren. Um deren potenziellen Einwänden vorzugreifen:
Die Aburteilung nach aktuellem Strafrecht wäre nach h.M. trotz § 1 StGB bzw. Art. 103 GG zulässig und ihre Taten nicht verjährt (vgl. dazu ausführlich J.-M. Günther, Der Fall Max und Moritz, 2019, S. 20 ff. m.w.N.). In der Literatur ist das zwischenzeitlich unstreitig (Honig NJW 2009, 734; Jahn, NJW 1989, 378; s.a. D.-C. Günther, Max und Moritz. Eine humorvolle "versicherungsrechtliche" Betrachtung, VersR 2008, 334). Da Max und Moritz zur Tatzeit schon vierzehn Jahre alt waren, sind sie auch nach § 19 StGB schuldfähig (a.A. beim Alter Honig, a.a.O.; Ostendorff, Max und Moritz – Prototypen von Intensivtätern, in: Safferling u.a. FS f. F. Streng zum 70. Geb., 2017, S. 579). Auch der juristische Grundsatz, dass Verbrechen mit dem Tod getilgt werden ("Crimina morte extinguntur"), steht einer Bestrafung der jugendlichen Täter nicht entgegen, da sich die (Kunst-)Figuren des Lebens erfreuen (s. dazu J.-M. Günther, a.a.O., S. 22 m.w.N.). Allerdings wird im Simplicissimus vom 15.4.1907 mit Bildmaterial über einen Prozess berichtet, in dem Max und Moritz zu sage und schreibe 40 Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Allenfalls hier könnte ein Ansatz für eine erfolgreiche Strafverteidigung bestehen, da niemand wegen des gleichen Sachverhalts zweimal verurteilt werden darf. Es bestehen aber begründete Zweifel, ob schon damals wirklich ein echter Prozess gegen die Lausbuben stattfand. Sie hätten unabhängig davon einen rechtsstaatlichen Prozess auf der Basis des JGG und aktuellen Strafrechts verdient. Wie hoch die Jugendstrafe heutzutage auszufallen hätte, kann wegen der Besonderheiten des Jugendgerichtsverfahrens nur grob geschätzt werden. Der Erziehungsbedarf erscheint bei Max und Moritz sehr hoch, ihre Kriminalprognose sehr schlecht. Eine Jugendstrafe im Bereich von ca. drei Jahren wird man bei ihnen für erforderlich, aber auch ausreichend halten können (für eine weitaus mildere – viel zu milde – Strafe plädiert Ostendorf, a.a.O.).
Die Betrachtung des Werks von Wilhelm Busch blieb...