Die in Rspr. und Lit. nicht einheitlich beantwortete Frage eines abgeleiteten Flüchtlingsschutzes für Familienangehörige eines erst in Deutschland geborenen und hier als Flüchtling anerkannten Kindes steht im Mittelpunkt des Urt. des BVerwG v. 15.11.2023 (1 C 7.22, NVwZ-RR 2024, 433 ff.). Nach § 26 Abs. 3 S. 1 i.V.m. Abs. 5 S. 1 u. 2 AsylG wird den Eltern eines minderjährigen ledigen Flüchtlings auf Antrag unter bestimmten, dort näher aufgeführten Voraussetzungen ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt; u.a. muss die Familie i.S.d. Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden haben, in dem der Flüchtling verfolgt wird. Das ist nach Auffassung des BVerwG dann nicht der Fall, wenn das schutzberechtigte minderjährige Kind – wie im Streitfall – erst in Deutschland geboren wird.
a) Systematik und Teleologie des nationalen Familienasyls
Mit § 26 Abs. 3 AsylG habe der Gesetzgeber Unionsrecht umgesetzt und dessen tatbestandlichen Anforderungen (vollständig) genügen wollen. Zugleich habe er diese Umsetzung aber im Rahmen und im System des bestehenden nationalen Familienasyls vorgenommen und sich etwa bei der Formulierung des § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AsylG an der parallelen Einschränkung beim Ehegattenasyl orientiert (vgl. § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG). Der Systematik und Teleologie des nationalen Familienasyls entspreche es, dass die „Familie”, die gem. § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AsylG schon im Verfolgerstaat Bestand gehabt haben muss, zwingend den Schutzberechtigten einschließe. Auch die in Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Einschränkung „sofern die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden hat” sei in diesem Sinne auszulegen. Ob die Eltern schon im Herkunftsland verheiratet waren, sei dagegen ohne Belang, weil der Anspruch auch einem einzelnen Elternteil oder einem anderen personensorgeberechtigten Erwachsenen zustehe (vgl. auch Art. 2 Buchst. j 3. Spiegelstrich der Richtlinie 2011/95/EU). Entscheidend sei, dass die familiäre Gemeinschaft zwischen dem schutzberechtigten Kind und den Eltern oder dem Elternteil, der den abgeleiteten Schutz geltend mache, bereits im Herkunftsland bestanden habe. Diese Auslegung werde nach Auffassung des BVerwG durch Sinn und Zweck des Familienasyls bestätigt. Beim Ehegattenasyl habe der Gesetzgeber mit der Einschränkung zu erkennen gegeben, dass der Nähe des Ehegatten zum Verfolgungsgeschehen und damit der daraus auch für ihn herrührenden Gefahr Rechnung getragen werden solle. Eine solche Nähe und eine eigene Gefährdung des Ehegatten setzten aber voraus, dass die Ehegatten bereits im Verfolgerland zusammengelebt hätten. Auf das Privileg des abgeleiteten Schutzes könne sich ein Ehegatte mithin aus sachlichem Grund nur berufen, wenn er schon im Herkunftsstaat für den Verfolger wahrnehmbar in ehelicher Lebensgemeinschaft mit dem primär verfolgten Schutzberechtigten gelebt habe. Die gleiche Teleologie liege der entsprechenden Einschränkung beim Elternschutz zugrunde. Nur derjenige Elternteil, der bereits im Herkunftsstaat mit seinem später schutzberechtigten Kind eine Familie gebildet habe, könne den abgeleiteten Schutz als Familienangehöriger eines Schutzberechtigten beanspruchen.
Etwas anderes könne auch nicht daraus hergeleitet werden, dass die Regelung der „umgekehrten” Fallkonstellation, der von einem schutzberechtigten Elternteil gem. § 26 Abs. 2 AsylG ableitbare Schutzstatus minderjähriger Kinder, nicht an die Voraussetzung geknüpft ist, dass die Familie schon im Verfolgerstaat bestanden hat. Dies sei weder Ausdruck eines verallgemeinerungsfähigen Rechtsgedankens noch könne es sonst die Auslegung der beim Elternasyl vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehenen Einschränkung in § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AsylG beeinflussen. Es handele sich dabei um eine bewusste Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, bei der er über das unionsrechtlich Gebotene tatbestandlich hinausgegangen sei und die einschlägigen unionsrechtlichen Vorgaben in zulässiger Weise überschießend umgesetzt habe.
b) Kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG
Die im nationalen Recht vorgesehene Privilegierung des Kinderasyls gegenüber dem Elternasyl verstößt nach Auffassung des BVerwG auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Ihr liege die Erwägung zugrunde, dass minderjährige Kinder eines verfolgten Erwachsenen unabhängig davon, ob sie bereits vor der Ausreise geboren und Teil der Familie waren, regelmäßig mit „im Visier” der Verfolger stünden. Dies rechtfertige die pauschale Zuerkennung des abgeleiteten Schutzes. Die Annahme, dass im umgekehrten Fall eines schutzberechtigten Kindes nicht in gleicher Weise pauschal eine Gefährdung auch der Eltern unterstellt werden könne, sei ohne Weiteres nachvollziehbar und vermöge die Ungleichbehandlung hinreichend zu rechtfertigen. Dass ein erst nach Verlassen des Herkunftslandes geborenes Kind in der EU als Flüchtling anerkannt werde, seine Eltern aber nicht, betreffe von vornherein nur seltene Fallkonstellationen. Regelmäßig gehe es dabei um Mädchen, denen im Herkunftsland Genitalverstümmelung drohe. Diese geschlechts- und altersspezifische Verfolg...