Der Antrag im Sozialrecht hat weitreichende Bedeutung bei der Durchsetzung von Leistungsansprüchen. Unter Antrag wird eine öffentlich-rechtliche Willenserklärung verstanden, die auf die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens mit dem Ziel des Erlasses eines die eigenen Rechte berührenden Verwaltungsaktes gerichtet ist (vgl. Wallerath, SRH § 11 Rn 55).
Aus dieser Begriffsbestimmung folgt, dass der Antrag eine doppelte Funktion hat: Er ist einmal auf die Einleitung des Verwaltungsverfahrens gerichtet und bestimmt, was der Gegenstand dieses Verfahrens ist. Die Behörde ist gem. § 18 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X verpflichtet, auf Antrag tätig zu werden. Ferner hat der Antrag materiell-rechtliche Funktion, indem er die Voraussetzung dafür erfüllt, dass eine Leistung überhaupt erbracht werden kann und gleichzeitig den Zeitpunkt angibt, ab wann die Leistung erbracht werden darf oder eine sonstige Rechtswirkung eintreten soll.
Für die Sozialversicherung sowie das Recht der Arbeitsförderung und die soziale Pflegeversicherung bestimmt § 19 S. 1 SGB IV, dass grds. Leistungen nur auf Antrag erbracht werden. Ausnahmen von diesem Grundsatz bestehen nur insoweit, als sie sich aus dem Gesetz ergeben. Die einzelnen AntragsregelungenâEUR™ergeben sich aus den einzelnen Sozialgesetzbüchern (auch außerhalb der Sozialversicherung, des RechtsâEUR™der Arbeitsförderung und der sozialen Pflegeversicherung). Hierzu folgender, nicht erschöpfender, Überblick:
- § 15 Abs. 1 BAföG, (Ausbildungsförderung),
- § 7 Abs. 1 BEEG (Elterngeld),
- § 9 Abs. 1 BKGG (Kindergeld nach dem BKGG und Kinderzuschlag),
- § 323 Abs. 1 S. 1 SGB III (Leistungen der Arbeitsförderung), s. aber auch § 323 Abs. 1 S. 2 SGB III und §§ 324, 325 SGB III,
- §§ 37 SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende),
- § 44 Abs. 1 SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung),
- § 34a Abs. 1 S. 1 SGB XII (Leistungen für Bildung und Teilhabe),
- § 22 WoGG (Wohngeld),
- §§ 99 Abs. 1, 115 Abs. 1 SGB VI (Rentenversicherung),
- § 33 Abs. 1 SGB XI (Pflegeversicherung),
- § 152 Abs. 1 SGB IX (Feststellung der Behinderung), § 151 Abs. 2 SGB IX (Gleichstellung behinderter Menschen),
- §§ 1 Abs. 1, 5, 60 Abs. 1 BVG, § 10 SGB XIV (Soziales Entschädigungsrecht).
Hinweise:
Im Hinblick darauf, dass die Gewährung (fast) aller Sozialleistungen antragsabhängig ist und in vielen Fällen die Leistungen vor Antragstellung, also rückwirkend, nicht oder nur für begrenzte Zeiträume gewährt werden (insoweit sind die in den einzelnen Leistungsgesetzen getroffenen Regelungen maßgeblich, s. etwa § 37 Abs. 2 S. 2 SGB II, wonach der Antrag auf Leistungen auf den Ersten des MonatsâEUR™zurückwirkt oder die beschränkte Rückwirkung im Rentenrecht, § 99 Abs. 1 S. 1 SGB VI), istâEUR™eine rasche und rechtzeitige Antragstellung empfehlenswert. Allerdings kann sich bei Beratungsfehlern der Leistungsträger eine Rückwirkung des Antrags über das Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs (s. hierzu unten 7.) ebenso ergeben, wie i.R.d. Anwendung von § 28 SGBX (s.u. 4.) und (evtl.) durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 27 SGB X). Ferner ist die Rückwirkung nach § 16 Abs. 2 SGB I (Antragstellung bei einer unzuständigen Behörde, s.u. II. 9. b) (s. dazu Teil 2 dieses Beitrags, demnächst in ZAP F. 18) zu erwähnen.
Bei wenigen Sozialleistungen ist ein Antrag entbehrlich. So bei der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. § 19 S. 1 SGB IV, mit wenigen gesetzlich angeordneten Ausnahmen, wie dort § 65 Abs. 5 SGB VII hinsichtlich der Witwen- und Witwerrenten) und der Sozialhilfe (§ 18 SGB XII), mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die nach § 44 Abs. 1 SGB XII zu beantragen sind, sowie den Leistungen für Bildung und Teilhabe (vgl. §§ 34, 34a SGB XII). Von Amts wegen zu erbringen sind ferner die Leistungen nach §§ 3, 4 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes (s. § 6b AsylbLG).
Der Antrag ist eine einseitige, empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung, die auf den Erlass eines die eigenen Rechte berührenden VA abzielt. Er setzt einmal das Verwaltungsverfahren in Gang (§§ 8, 18 SGB X) und hat zudem konstitutive bzw. materielle Wirkung hinsichtlich der Leistungsvoraussetzung (s. z.B. § 37 Abs. 1 SGB II, § 41 Abs. 1 S. 1 SGB XII). Die Regelungen des BGB über Willenserklärungen sind auf den Antrag analog anwendbar, so etwa hinsichtlich des Zugangs (§ 130 BGB, zum Widerruf s. § 130 Abs. 1 S. 2 BGB), der Anfechtung wegen Täuschung, Irrtums und Drohung (§§ 119,123 BGB) oder der Umdeutung (§ 140 BGB).