Für erheblich mehr Diskussionsstoff als der eindeutig formulierte § 140 Abs. 1 StPO sorgt in der Praxis nach wie vor die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO. Hier wird, was die relativ große Zahl von Fällen, in denen Beschwerdegerichte eingreifen müssen, zeigt, immer wieder versucht, die Zahl der Beiordnungen durch eine unangemessen restriktive Auslegung der Vorschrift gering zu halten.
1. Schwere der Tat
Nach ganz h.M. ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers geboten, wenn dem Angeklagten im Fall der Verurteilung eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr droht (statt aller Burhoff, EV, Rn 2876, 8. Aufl. Rn 2893). Entgegen einer noch immer hin und wieder vertretenen Ansicht ist diese "Jahresgrenze" nicht erst dann erreicht, wenn gerade in dem Verfahren, in dem die Beiordnung erfolgen soll, eine Strafe in dieser Größenordnung im Raum steht, sondern auch dann, wenn die Straferwartung aufgrund weiterer Verfahren durch eine Gesamtstrafenbildung (KG StraFo 2017, 153) oder durch einen möglichen Bewährungswiderruf in anderer Sache insgesamt ein Jahr erreicht (LG Dessau-Roßlau StraFo 2015, 515; OLG Naumburg StV 2018, 143). Entscheidend ist also das drohende Gesamtstrafübel.
2. Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage
Häufig wird ein Fall der notwendigen Verteidigung – oftmals mittels eines in der Justiz weit verbreiteten Textbausteins – mit der Begründung verneint, es handele sich "um einen einfach gelagerten Sachverhalt", der "weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht besondere Schwierigkeiten" aufweise.
Diese Argumentation mag in offensichtlich unproblematischen Fällen tragfähig sein, nicht aber, wenn acht Zeugen zu hören sowie zahlreiche Urkunden zu verlesen sind und daher umfassende Akteneinsicht, die dem Verteidiger vorbehalten ist, erforderlich erscheint (LG Saarbrücken StraFo 2016, 513). Gleiches gilt, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen den Angeklagten ist (LG Braunschweig Blutalkohol 54 [2017], 216).
Dagegen soll sich die Notwendigkeit der Verteidigung nach Auffassung einiger Gerichte nicht zwingend bereits daraus ableiten lassen, dass der Verletzte auf eigene Kosten einen anwaltlichen Beistand hinzuzieht (OLG München, Beschl. v. 2.5.2017 – 2 Ws 504/17, StRR 6/2017, 2; OLG Hamburg StV 2017, 149). Der Gesetzgeber habe die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers in § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO bewusst ausdrücklich nur für Fälle vorgeschrieben, in denen dem Verletzten ein Rechtsanwalt beigeordnet ist. Hinsichtlich der Konstellation, dass sich der Verletzte auf eigene Kosten anwaltlichen Beistands bedient, liege daher keine planwidrige Regelungslücke vor.
Überzeugend ist diese Sichtweise indes nicht: Im Falle einer anwaltlichen Vertretung nur des Verletzten wird das Prinzip der Waffengleichheit unabhängig von der – für den Angeklagten nebensächlichen – Frage, ob der Beistand des Verletzten aufgrund gerichtlicher Beiordnung oder aufgrund Anwaltsvertrags tätig wird, nahezu immer beeinträchtigt sein, da sich der Angeklagte in beiden Fällen einem Verletzten gegenübersieht, der sich des fachkundigen Rats eines Rechtsanwalts bedient. Eine Differenzierung danach, auf welcher Grundlage der Verletztenbeistand tätig wird, erscheint daher nicht sachgerecht. Es ist vielmehr mit Blick auf den rechtsstaatlichen Grundsatz des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit geboten, auch dann einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der anwaltliche Vertreter des Verletzten nicht aufgrund gerichtlicher Bestellung tätig wird, sondern vom Verletzten selbst gewählt wurde (Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 3. Aufl. 2018, § 140 Rn 33 m.w.N.).
Hinweis:
Die Problematik der beeinträchtigten Waffengleichheit wird im Grundsatz auch von Vertretern der Gegenposition anerkannt, wenn diese darauf hinweisen, dass eine Verteidigerbestellung nicht allein deshalb abgelehnt werden dürfe, weil ein Fall der §§ 397a, 406h StPO nicht vorliege. Erforderlich sei vielmehr eine einzelfallbezogene Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung trotz einer bestehenden anwaltlichen Vertretung des Verletzten, wobei neben der Komplexität des Anklagevorwurfs und der Beweislage auch der Umstand in die Erwägungen einzubeziehen sei, dass ein anwaltlich vertretener Verletzter regelmäßig von seinen verfahrensgestaltenden Rechten Gebrauch macht (OLG Hamburg StV 2017, 149). Im Ergebnis dürften daher beide Ansichten oftmals zum selben Ergebnis kommen.
3. Unfähigkeit zur Selbstverteidigung
a) Gesundheitliche und geistige Einschränkungen
Bei der Prüfung des § 140 Abs. 2 StPO sind auch die in der Person des Angeklagten liegenden Umstände zu berücksichtigen. Wer mit geistigen Beeinträchtigungen leben muss, ist sehr viel schneller mit der Wahrnehmung seiner Rechte überfordert und daher u.U. in weitaus höherem Maße auf den Beistand eines Verteidigers angewiesen als Gesunde. Dennoch kommt es bei der Prüfung der Selbstverteidigungsfähigkeit immer wieder zu schwer nachvollziehbaren Entscheidungen, bei deren Lektüre man oftmals nur staunen kann, welche Beeinträchtigungen der Selbstverteidigungsfähigkeit unbeachtlich sein sollen und was manch Angeklagtem zugemu...