Im vergangenen Jahr hatte die Ampel-Koalition das Wahlrecht für die Wahlen zum Deutschen Bundestag reformiert, um ein weiteres Anwachsen der Bundestagsmandate insb. infolge von Überhang- und Ausgleichsmandaten zu verhindern und das Parlament wieder auf die den Wahlkreisen entsprechenden 630 Abgeordnetensitze zu begrenzen. Erreicht werden sollte dies im Wesentlichen mit zwei Neuerungen: dem neuen Zweitstimmendeckungsverfahren und dem Wegfall der bisherigen Grundmandatsklausel. Gegen die Wahlrechtsreform hatten in Karlsruhe mehrere Tausend Bürger Verfassungsbeschwerde erhoben sowie mehrere Oppositionsfraktionen des Bundestages Normenkontrollanträge gestellt.
Mit Urt. v. 30.7.2024 hat das Bundesverfassungsgericht die Wahlrechtsreform in einem Punkt für verfassungswidrig, im Übrigen jedoch für verfassungskonform erklärt (Az. 2 BvF 1/23, 2 BvR 1547/23, 2 BvR 1523/23, 2 BvE 10/23, 2 BvE 9/23, 2 BvE 2/23, 2 BvF 3/23). Gebilligt haben die Karlsruher Richter das sog. Zweitstimmendeckungsverfahren, mit dem die bisherigen Überhang- und Ausgleichsmandate künftig entfallen sollen. Danach erhalten Wahlkreisbewerber mit den meisten Erststimmen jetzt nur noch dann ein Bundestagsmandat, wenn es von dem aus dem Zweitstimmenergebnis ermittelten Sitzkontingent ihrer Partei gedeckt ist.
Der Gesetzgeber dürfe Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd gewesen seien und Wählerinnen und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangten, befand der 2. Senat. Der Entschluss des Gesetzgebers, das Wahlrecht zu reformieren, sei nicht an besondere Voraussetzungen gebunden; er habe hier einen weiten Gestaltungsspielraum. Diesen habe er mit der Änderung des Bundeswahlgesetzes im vergangenen Jahr nicht überschritten. Insbesondere habe die Reform nicht zu einer Ungleichbehandlung von Wahlstimmen geführt. Alle Wahlstimmen hätten nach wie vor den gleichen Zählwert. Der Gesetzgeber habe sich für die Beibehaltung einer Kombination zwischen Personenwahl (Erststimme) und Verhältniswahl (Zweitstimme) entschieden. Den damit zwingend verbundenen Ausgleich zwischen den Ergebnissen der Wahlkreiswahl und der Verhältniswahl habe er lediglich neugestaltet; dies sei zulässig.
Beanstandet wurde von den Karlsruher Richtern allerdings die Streichung der sog. Grundmandatsklausel, die eng mit der 5 %-Sperrklausel zusammenhängt. Nach der bisherigen Sperrklausel durften nur die Mandatsbewerber in den Bundestag einziehen, deren Partei mindestens 5 % der bundesweiten Zweitstimmen erhalten hatten. Davon gab es aber eine Rückausnahme: Scheiterte eine Partei zwar an der 5 %-Klausel, gelangen ihr jedoch mindestens drei Wahlkreissiege, durfte sie trotzdem in den Bundestag einziehen und zwar nicht nur mit ihren Direktmandaten, sondern im Umfang ihrer Zweitstimmengewinne. Die jetzt erfolgte Neugestaltung der 5 %-Sperrklausel, die die Grundmandatsklausel nicht mehr enthält, befanden die Verfassungsrichter für unverhältnismäßig. Sie verletze die Chancengleichheit der Parteien und sei auch nicht erforderlich, um das Ziel der Wahlrechtsreform – das weitere unkalkulierbare Anwachsen der Mandate zu stoppen – zu erreichen. Vor allem mit Blick auf die bayerische CSU, die vor allen anderen von dieser Änderung nachteilig betroffen wäre, führte der Senat aus, dass es nicht notwendig sei, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden könnten, wenn beide Parteien gemeinsam das 5 %-Quorum erreichen würden. Parteien wie CDU und CSU, die in dieser Form schon seit längerer Zeit wie eine einzige politische Kraft kooperierten, müssten bei der Anwendung der Sperrklausel gemeinsam berücksichtigt werden, meinten die Verfassungsrichter. Sie ordneten daher an, dass die bisherige Grundmandatsklausel in Kraft bleibt, bis der Gesetzgeber eventuell eine verfassungskonforme neue Sperrklausel beschließt.
[Quelle: BVerfG]