Es kommt nicht allzu häufig vor, dass es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auf die Titelseite der "Bild"-Zeitung schafft. Mit seiner Entscheidung vom 14.5.2019 – C-55/18 (CCOO./. Deutsche Bank SAE, vgl. ZAP EN-Nr. 351/2019) ist dem Gerichtshof dieses Kunststück gelungen. "Wir kommen zurück zur Stechuhr-Kultur", zitiert "Bild" den Gesamtmetall-Chef, während der DGB frohlockt, dass der EuGH der "Flatrate-Arbeit" einen Riegel vorschiebt.

Mir war klar, dass es nicht lange dauern würde, bis sich die ersten Mandanten melden würden. Also galt es schnell zu klären, was der EuGH eigentlich entschieden hat und welche Konsequenzen hieraus zu ziehen sind. Es ging in dem Verfahren um die Deutsche Bank in Spanien, die dort von einer Gewerkschaft verklagt worden war. Die Deutsche Bank solle ein System zur umfassenden Erfassung der Arbeitszeit einführen, denn bislang wurden nur ganztägige Fehlzeiten wie Urlaub oder Krankheit erfasst. Das spanische Gericht fand hierfür im spanischen Recht keine Rechtsgrundlage und legte dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV die Frage vor, ob sich eine entsprechende Verpflichtung aus Europäischem Recht ergebe. Der EuGH bejahte dies im Grundsatz: Die Mitgliedsstaaten seien nach der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG v. 4.11.2003, ABl 2003, L 299, S. 9) verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die in der Richtlinie vorgesehenen Begrenzungen der Arbeitszeit eingehalten und wirksam kontrolliert werden könnten. Hierzu zähle, ein System zur objektiven und verlässlichen Feststellung der Arbeitszeit verpflichtend vorzusehen. Ohne ein solches System gäbe es keine Garantie, dass die in der Richtlinie vorgegebenen Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten tatsächlich eingehalten würden. Erst einmal nimmt der EuGH die nationalen Gesetzgeber in die Pflicht: Diese sollen zur Umsetzung eines solchen Systems die Modalitäten festlegen. Die Mitgliedsstaaten hätten aber Spielräume, in denen sie auch Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, die Größe eines Unternehmens und besondere Merkmale der ausgeübten Tätigkeit berücksichtigen dürften, wenn etwa die Arbeitszeit von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann, so der EuGH. Wenn möglich, müssten die nationalen Gerichte bestehendes Recht richtlinienkonform auslegen.

Ich schlug § 16 Arbeitszeitgesetz auf: "Der Arbeitgeber ist verpflichtet", las ich "die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 S. 1 [also acht Stunden, Anm. des Verf.] hinausgehende Arbeitszeit aufzuzeichnen". Mehr nicht. Dem EuGH würde dies sicher nicht genügen. Selbst wenn man mit viel guten Willen davon ausgeht, dass man anhand der nach § 16 Abs. 2 ArbZG erstellten Aufzeichnungen die Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden kontrollieren könne, gilt dies nicht für die Einhaltung der Ruhezeiten und -pausen. Hierfür müsste man Beginn und Ende der Arbeitszeit dokumentieren.

Könnte man § 16 ArbZG vielleicht richtlinienkonform auslegen? Ich zweifelte. Einerseits hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in der Vergangenheit viel Kreativität bei der unionrechtskonformen Auslegung gezeigt, man denke nur an die "richtlinienkonforme Fortbildung" von § 7 Abs. 3 BUrlG im Anschluss an die "Schultz-Hoff"-Entscheidung des EuGH (EuGH, Urt. v. 20.1.2009 – C-350/06, C-520/06). Aber hier dürfte mit Auslegung nichts zu machen sein, zumal es sich bei der Aufzeichnungspflicht um eine öffentlich-rechtliche – und zugleich bußgeldbewehrte – Verpflichtung handelt, was allzu großzügiger Rechtsfortbildung entgegenstehen dürfte.

Also gab ich erst einmal (vorläufig) Entwarnung: Bevor nicht der Gesetzgeber handelt, passiert nichts. Dies schien auch der Gesetzgeber so zu sehen, denn der Bundesarbeitsminister kündigte schon bald einen Entwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes an, der den Anforderungen des EuGH Rechnung tragen sollte.

Ich überlegte: Wie könnte ein "objektives und verlässliches" System der Arbeitszeiterfassung aussehen? Sicher, man könnte schlicht alle Arbeitgeber verpflichten, Beginn und Ende der Arbeitszeit ausnahmslos zu erfassen. Dies wäre tatsächlich die flächendeckende Einführung der Stechuhr. Aber wo sind dann die Spielräume, von denen der EuGH ausdrücklich sprach? Wenn auf die Größe des Unternehmens Rücksicht genommen werden kann, liegt es nahe, Unternehmen bis zu einer gewissen Größe auszunehmen. Fraglich schien mir die Rechtfertigung hierfür. Größeren Unternehmen ist der Kostenaufwand für eine Zeiterfassung eher zumutbar als Kleinunternehmen, könnte man anführen. Wirklich überzeugend ist dies nicht. Eine umfassende Pflicht zur Zeiterfassung hat gewiss einen hohen Lästigkeitsfaktor, immense Kosten verursacht diese heutzutage nicht mehr. Im App-Store sind dutzende Zeiterfassungs-Apps verfügbar, kostengünstige Lösungen dürften dank der flächendeckenden Verbreitung von Smartphones möglich sein. Zudem existieren für bestimmte Branchen schon umfassende Pflichten zur Erfassung der Arbeitszeit, nach § 17 Abs. 1 ...

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