Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Entscheidungen v. 14.7.1987 die von der Bundesrechtsanwaltskammer erlassenen Richtlinien als verfassungswidrig außer Kraft gesetzt, sodass die Anwaltschaft das anwaltliche Berufsrecht neu ordnen musste.
Der 1994 eingefügte § 59b Abs. 1 BRAO überließ es der noch zu bildenden Satzungsversammlung (euphemistisch: Parlament der Rechtsanwälte), das Nähere zu den beruflichen und rechtlichen Pflichten der Anwaltschaft zu regeln.
Aufgrund dieser Ermächtigung wurden am 29.11.1996 die Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) und die Fachanwaltsordnung (FAO) verabschiedet. Die Diskussionen in der Satzungsversammlung befassten sich überwiegend mit der Frage, ob und inwieweit Rechtsanwälte mit bestimmten Informationen in ihrer Berufstätigkeit werben dürfen. Die in § 7 BORA genannten zulässigen Hinweise und Benennungen von Interessen- und Tätigkeitsschwerpunkten haben sich nicht bewährt, zumal derartige Angaben auf einer Selbsteinschätzung beruhen. Nur Fachanwaltsbezeichnungen signalisieren geprüfte Qualität, sodass sich die Satzungsversammlung insb. mit der Frage befasste, ob und inwieweit ein Katalog der Anwaltschaften erweitert werden sollte.
Die FAO sieht neben einem Fachlehrgang, der durch drei Klausuren abgeschlossen werden soll, den Nachweis einer bestimmten Anzahl bearbeiteter Fälle von gerichtlichen und außergerichtlichen Verfahren vor. Dieser Nachweis kann oft nicht erbracht werden, da sich die Zahl der gerichtlichen Verfahren zwischenzeitlich halbiert hat. Die rückläufigen Eingangszahlen in der Justiz bedeuten auch eine Beschränkung des forensischen Tätigkeitsfeldes der Anwaltschaft.
Die Bearbeitung einer Vielzahl von Fällen besagt noch nichts über die Qualität der Arbeit. Die Prüfungsausschüsse der Rechtsanwaltskammern prüfen lediglich die formalen Voraussetzungen der FAO-Prüfung, also die Absolvierung eines Fachlehrgangs, drei erfolgreich geschriebene Klausuren und die entsprechenden Fallzahlen.
Die Rechtsanwaltskammer Köln hat vor einigen Jahren den Antrag einer Kollegin, den Fachanwaltstitel für Familienrecht zu erwerben, zurückgewiesen, weil sowohl die von ihr vorgelegten Fälle als auch die von ihr geschriebenen Klausuren mehr als schlecht bearbeitet worden waren. Ein Fachgespräch lehnte die Kollegin ab. Die Rechtsanwaltskammer Köln befürchtete daher, sich regresspflichtig zu machen, wenn eine offensichtlich ungeeignete Kollegin mit dem Titel Fachanwältin ausgestattet würde.
Der BGH hat die Rechtsanwaltskammer Köln verurteilt, den Fachanwaltstitel zuzuerkennen, da die Prüfungsausschüsse nur „Zählkommissionen” sind, die lediglich prüfen, ob ein Fachlehrgang absolviert wurde, drei Klausuren geschrieben wurden und ob eine bestimmte Anzahl von bearbeiteten Fällen nachgewiesen wurde.
Während es den älteren Kolleginnen und Kollegen noch relativ leichtfiel, bearbeitete Fälle nachzuweisen, ist dies bei jüngeren Kolleginnen und Kollegen nicht der Fall, sodass die Zahl der Fachanwälte durch das Ausscheiden der Kolleginnen und Kollegen aus dem Berufsleben rückläufig ist. In den letzten 5 Jahren sind rund 600 Fachanwälte für Familienrecht verlorengegangen, in anderen Bereichen ist kaum ein Zuwachs weiterer Fachanwältinnen und Fachanwälte zu verzeichnen.
Der Nachweis einer großen Anzahl von bearbeiteten Fällen fällt jüngeren Kolleginnen und Kollegen dann nicht schwer, wenn sie in einer großen Kanzlei tätig sind, in der die eingehenden Mandate auf die jeweiligen Bewerberinnen und Bewerber fokussiert werden können.
Ansonsten gilt auch für die Fachanwaltschaften die Tragik des Schusters Wilhelm Voigt, der als Hauptmann von Köpenick bekannt wurde. Voigt bekam keine Arbeitserlaubnis, weil er keine Aufenthaltserlaubnis hatte, die Aufenthaltserlaubnis wurde ihm versagt, weil er keine Arbeitserlaubnis hatte.
Wenn eine Bewerberin oder ein Bewerber die notwendige Anzahl von bearbeiteten Fällen nachweist, wird der Fachanwaltstitel verliehen, selbst wenn alle Fälle falsch bearbeitet worden sind.
Die FAO ist reformbedürftig.
Es sollten alle gerichtlichen Verfahren berücksichtigt werden, auch aus benachbarten oder völlig anderen Rechtsgebieten. Schließlich muss die Möglichkeit bestehen, die Qualifikation auch anderweitig, ggf. durch ein Fachgespräch, nachzuweisen.
Der Schadenleiter einer großen Versicherungsgesellschaft, der in den Anwaltsberuf gewechselt hat, kann nicht Fachanwalt werden, weil er die gerichtlichen Verfahren nicht nachweisen kann. Dies gilt auch für den Inhaber eines Lehrstuhls für Versicherungsrecht, der anwaltlich tätig werden möchte.
Die Ausweitung der Fachanwaltschaften ist sicherlich ein Erfolgsmodell. Eine Vielzahl von bearbeiteten Fällen besagt indes noch nichts über die Qualifikation; es sollte auch die Möglichkeit bestehen, in einem Fachgespräch die Fachkunde in dem jeweiligen Rechtsgebiet nachzuweisen.
ZAP F., S. 793–794
Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Fachanwalt für Versicherungsrecht, Köln