1. Urteil v. 24.9.2003 (2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 ff.)
Die amtlichen Leitsätze dieser Entscheidung lauten:
Zitat
- Ein Verbot, für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, findet im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage.
- Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein.
Das BVerfG hatte damit dem Gesetzgeber zwei Möglichkeiten eingeräumt; einerseits ein Verbot und andererseits eine Erlaubnis für das Tragen eines Kopftuchs im Unterricht zu statuieren. Interessant ist die Differenzierung zwischen abstrakter und konkreter Gefährdung: Sollen bereits bloße Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts aufgrund des Auftretens der Lehrkraft und nicht erst ein konkretes Verhalten, das sich als Versuch einer Beeinflussung oder gar Missionierung der anvertrauten Schulkinder darstellt, als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten (Neutralitätspflicht des Beamten, Art. 33 Abs. 5 GG) oder als die Berufung in das Beamtenverhältnis hindernder Mangel der Eignung bewertet werden, so setzt dies, weil damit die Einschränkung des vorbehaltlos gewährten Grundrechts der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einhergeht, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage voraus, die dies erlaubt (BVerfGE 108, 282, 303).
Hinweis:
In der Folgezeit entschlossen sich zahlreiche Bundesländer, der ersten Möglichkeit zu folgen und ein "Kopftuchverbot" einzuführen.
Dem 2. Senat wurde im Zusammenhang mit dieser Entscheidung vereinzelt mangelnde Präzision vorgehalten. Hinsichtlich der Frage, ob ein generell-abstraktes Verbot religiöser Bekundungen im Erscheinungsbild ohne Anknüpfung an eine konkrete Gefahr möglich sei, habe der Senat widersprüchliche und missverständliche Signale ausgesendet (vgl. Klein DÖV, 2015, 464 ff., 466).
2. Beschlüsse v. 27.1.2015 (1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10, ZAP EN-Nr. 239/2015)
Mit der aktuellen Entscheidung war nunmehr § 57 Abs. 4 SchulG NW auf dem Prüfstand. Satz 1 der Vorschrift lautet:
Zitat
"Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören."
Das BVerfG formulierte dazu folgenden zweiten Leitsatz:
Zitat
"Ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen (hier: nach § 57 Abs. 4 SchulG NW) durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ist unverhältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. Ein angemessener Ausgleich der verfassungsrechtlich verankerten Positionen – der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags – erfordert eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm, nach der zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss."
Zur Begründung wird u.a. ausgeführt (Rn. 111 Entscheidungsgründe):
Zitat
"Danach sind etwa christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht ausgeschlossen; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein (vgl. BVerfGE 41, 29 [51]; 52, 223 [236 f.]). Weil Bezüge zu verschiedenen Religionen und Weltanschauungen bei der Gestaltung der öffentlichen Schule möglich sind, ist für sich genommen auch die bloß am äußeren Erscheinungsbild hervortretende Sichtbarkeit religiöser oder weltanschaulicher Zugehörigkeit einzelner Lehrkräfte – unabhängig davon, welche Religion oder Weltanschauung im Einzelfall betroffen ist – durch die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht ohne weiteres ausgeschlossen. In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität (vgl. BVerfGE 41, 29 [50])."
Hinweis:
Diese Entscheidung ist ebenso wie die Entscheidung aus dem Jahre 2003 nicht einstimmig gefällt worden.
In dem zu dieser Entscheidung ergangenen lesenswerten Sondervotum (Rn. 2) heißt es:
Zitat
"Die vom Senat geforderte einschränkende Auslegung des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NW dahin, dass nur eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität ein Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagogen zu rechtfertigen vermag, wenn es um die Befolgung eines imperativ verstandenen religiösen Gebots geht, misst den zu dem individuellen Grundrecht der Pädagogen gegenläufigen Rechtsgütern von Verfassungsrang bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ...