Die EU macht’s möglich – mit ihrem nicht selten wirklichkeitsfremden Gemeinschaftsrecht: Wenn das holländische Zentrale Justiz-Inkassobüro (CJIB) einen Bußgeldbescheid wegen Tempolimitverstoßes eines deutschen Autofahrers an dessen Wohnsitz vollstrecken lässt, verbleibt das einkassierte Geld in Deutschland. So will es Art. 13 des EU-Rahmenbeschlusses über die Geldsanktionenvollstreckung (RB Geld) von 2005. Dieser wurde fünf Jahre später ins deutsche Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (§§ 86 ff. IRG) übernommen.
Warum ausgerechnet ein Beispielsfall aus den Niederlanden? Weil beim Bonner Bundesamt für Justiz (BfJ) rund 98 % aller (2013 etwa 9.500) ausländischen Vollstreckungsersuchen aus dem Nachbarland eingehen (Johnson SVR 2014, 321 ff.). Das muss ja seine Gründe haben. Oder wissen die Holländer womöglich gar nicht, dass ihr Verfolgungs- und Vollstreckungsfleiß finanziell nicht belohnt wird? Zum Vergleich: 2014 gingen gut 2.200 deutsche Vollstreckungsersuche an die Niederlande hinaus.
Schon im Entwurfsstadium des RB Geld wurde gerätselt, warum die eingezogenen Bußgelder nicht an den ersuchenden Tatortstaat überwiesen werden sollten. Denn dieser hat ja einen erheblichen Aufwand für das Verfolgungsverfahren durch Polizei, Verwaltung und Gerichte zu betreiben. Genau gegenteilig wird nämlich seit 25 Jahren die deutsch-österreichische Vollstreckungshilfe in Bußgeldsachen gehandhabt.
In den letzten zehn Jahren haben – mit wenig Begeisterung – 25 von 28 EU-Staaten den EU-Rahmenbeschluss in nationales Recht übernommen (Deutschland 2010). Griechenland, Italien und Irland scheinen weiterhin abzuwägen, ob eine Umsetzung sinnvoll erscheint. Eine Reihe von Staaten macht – trotz Übernahme ins nationale Recht – fast keinen Gebrauch von der Vollstreckungsmöglichkeit. Obwohl in Ländern wie Dänemark oder Spanien auch minimale Zuwiderhandlungen (wie Parkverstöße) mit hohen Bußen verfolgt werden.
Jedenfalls weiß man seit längerem diesseits des Rheins, in Deutschland, dass drüben, in Holland, gnadenlos geahndet wird – nach dem Motto: je geringer der Verstoß, desto unnachsichtiger das Handeln der Behörden. Im Nachbarland werden 99,5 % aller begangenen Verkehrsverstöße verfolgt (vgl. DAR 2010, 240). Der offenbar sehr ausgeprägte niederländische Gerechtigkeitssinn selbst in Bagatellsachen lässt kein Verhältnismäßigkeitsprinzip gelten: Praktisch alle Aus- und Inländer werden gleich strikt abzukassieren versucht.
Die deutsche Rechtsprechung wird im Übrigen in Einspruchs- und Beschwerdesachen seit Umsetzung des RB Geld gem. §§ 86 ff. IRG durchaus in Anspruch genommen. Und natürlich spielen hierbei Niederlande-Fälle die absolute Hauptrolle (Johnson SVR 2014, 323 f.). Zwei Problembereiche beschäftigen dabei die Gerichte in Deutschland im Wesentlichen: die Halterhaftung und die Geldbußenhöhe.
Die strenge holländische Rechtslage lässt nur theoretisch Ausnahmen (etwa bei nachweislichem Fahrzeug-Diebstahl) von der fast ausnahmslosen Verfolgung des Halters für mit seinem Fahrzeug begangene Verstöße zu. Diese Praxis gerät natürlich in Konflikt mit der gegenteiligen deutschen alleinigen Fahrer-Verantwortlichkeit.
Insofern hatten sich zunächst die Amtsgerichte Saarbrücken und Verden 2012 mit Einsprüchen zu niederländischen Vollstreckungsersuchen gegen deutsche Kfz-Halter zu befassen. Das OLG Köln musste am 21.5.2012, das OLG Jena am 4.9.2013 über entsprechende Beschwerden wegen holländischer Bewilligungsersuchen entscheiden.
Aber auch zur Höhe ausländischer, speziell zur geforderten Herabsetzung niederländischer Geldsanktionen mussten deutsche Gerichte sich äußern. Denn gerade bei den Nachbarn in Holland sind die Bußgelder für gängige Zuwiderhandlungen wie Geschwindigkeitsüberschreitungen um das Mehrfache höher als in Deutschland (Beispiel: 26 km/h innerorts zu schnell kosten in den Niederlanden 308 EUR, in Deutschland 100 EUR). Aus gleichem Grund musste das OLG Braunschweig am 5.12.2012 per Beschluss wegen eines Rotlichtverstoßes entscheiden (220 bzw. 90 EUR). Nämlich darüber, ob die Vollstreckung erheblich höherer niederländischer Geldbußen in Deutschland zulässig sei – sie ist es!
Trotz fast 100 %iger Rigorosität bei – auch internationaler – Verfolgung und Vollstreckung sind die Niederlande immer noch weit von hochprozentiger Verkehrssicherheit entfernt. Aber wenigstens sind dort die Verkehrsopferzahlen in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken.
Am gegenwärtigen, kaum praktizierten Vollstreckungshilfeverkehr in Bußgeldsachen (außer mit Holland) wird sich wohl vorerst nicht viel ändern. Auch nicht durch die neue sog. Enforcement-Richtlinie 2011/82/EU, die am 6.5.2015 in Kraft getreten ist und innerhalb von zwei Jahren umgesetzt werden muss. Ein Blick in das jeweilige nationale Sanktionsrecht (etwa mithilfe des Titels "Bußgeldkataloge in Europa") könnte aber zumindest für etwas mehr Klarheit hinsichtlich der jeweiligen nationalen Rechtslage sorgen.
Rechtsanwalt Hermann Neidhart, Neuried
ZAP 18/2015, S. 951 – 952