Ob und wie oft eine Lüge vor Gericht vorkommt, ist unbekannt. Tatsächlich gibt es auch keine absolut zuverlässige Methode, um eine Lüge zu entlarven. Jedwede Methode der Lügenerkennung kann daher nur eine Vermutung auf Plausibilitätsniveau darstellen. Die amerikanische Forschung zur Lügenerkennung verfolgt weitgehend die Beobachtung köpersprachlicher Indikatoren, während die deutsche Wissenschaft sich hauptsächlich mit der Aussageanalyse beschäftigt. Nach der sog. Undeutsch-Hypothese unterscheiden sich Aussagen von tatsächlich Erlebtem in sachlich-sprachlicher Hinsicht von frei erfundenen Schilderungen.
Paul Ekman soll mit seiner Methode der Suche nach sog. Microexpressionen (kurzzeitig sichtbare Gesichtsausdrücke) hohe Trefferquoten in der Lügenerkennung vorweisen können (vgl. Ekman, Telling lies, 2001; Ekman/O’Sullivan/Frank, A few can catch a liar, Psychological Science 1999, S. 263 ff.). Gerüchten zufolge sollen diverse amerikanische Schüler von Ekman in Entzückung verfallen sein, als sie unmittelbar nach einer im TV übertragenen Rede von Richard Nixon meinten, bei diesem Lügensignale hinsichtlich seiner Aussage zu "Watergate" bemerkt zu haben. Tatsächlich konnte Nixon einige Zeit später auch der Lüge überführt werden.
Ein solches Aha-Erlebnis könnte auch die Aussageanalyse für deutsche Beobachter bereithalten. Die Aussageanalyse fordert, dass eine undetaillierte Aussage per se nicht überzeugen kann, losgelöst von der Frage der Lüge (vgl. Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 2. Aufl. 2013, Kap. 26 Rn. 223). Dem sog. Dilemma des Lügners (vgl. Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 2. Aufl. 1995, Rn. 174) folgend wäre der Prototyp der erlogenen Aussage vage, karg, abstrakt (vgl. Bender/Nack, a.a.O., Rn. 342).
Beachtet man die Diskussion zwischen Generalbundesanwalt a.D. Range und Justizminister Maas in der Sondersitzung des Rechtsausschusses des Bundestags im August 2015 wird Folgendes berichtet: Range behauptet, eine "unerträgliche" (rechtswidrige) Weisung von Maas erhalten zu haben, während Maas die "Vereinbarung einer bestimmten Verfahrensweise" behauptet. Range behauptet weiter, die Anweisung erhalten zu haben, ein in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten zu stoppen und das Ermittlungsverfahren einzustellen, andernfalls werde er entlassen. Mit den Worten "Es geht um Ihren Kopf" soll er von der Staatssekretärin im Justizministerium bedroht worden sein. Die Staatssekretärin bestreitet dies; das sei nicht ihre Diktion, vielmehr habe man sich "geeinigt". Das Ministerium soll nur "um sorgfältige Prüfung" gebeten oder zur "Verhältnismäßigkeit" gemahnt oder "Zweifel" geltend gemacht haben. Schlussendlich soll das Ministerium mit Karlsruhe "vereinbart haben, ein von Range beauftragtes Expertengutachten, durch ein eigenes zu ersetzen" (Quelle: Die Welt, "Herr Range, es geht um Ihren Kopf", online eingesehen am 20.8.2014 unter www.welt.de ).
Wenn für die Anhänger der Microexpression die Rede von Richard Nixon im TV zu Watergate ein Aha-Erlebnis war, dann ist der durch die Presse übermittelte Inhalt der angeblichen Aussagen vor dem Rechtsausschuss ein Aha-Erlebnis für die Anhänger der Aussageanalyse.
Klar ist, dass wir hier nicht beurteilen wollen oder können, ob Range oder Maas lügt. Zum einen ist die Aussagenanalyse hierfür nicht hinreichend verlässlich (s.o.) und zum anderen ist eine Beurteilung einer Aussage, deren Inhalt von der Presse zusammengefasst und weitergegeben wird, seriöserweise nicht möglich.
Der Fall soll daher nur anregen, sich mit der Aussageanalyse im Allgemeinen zu befassen: Die Aussagen von Range sind durchaus detailliert; er soll ein Gutachten stoppen, ein Ermittlungsverfahren einstellen, andernfalls werde er entlassen. Das wörtliche Zitat ("es geht um Ihren Kopf") scheint ausgefallen zu sein, d.h. es erfüllt das sog. Originalitätskriterium als Realitätskriterium (vgl. Geipel, a.a.O., Kap. 26 Rn. 39 f. m.w.N.). Wenn Range lügt, würde es wundern, dass er seinen Gesprächspartner im Ministerium namentlich benennt (sog. Verflechtungsangebot als Realitätskriterium, vgl. OLG Stuttgart NJW 2006, 3506).
Demgegenüber sind die Aussagen seitens des Justizministeriums vage, abstrakt und karg. An Konkretem erfährt man nur, dass "vereinbart worden sei, das von Range in Auftrag gegebene Gutachten zu stoppen und durch ein eigenes zu ersetzen". Das wiederum könnte zum Lügensignal der Nichtreaktionsbehauptung werden, wenn keine weiteren Äußerungen Ranges geschildert werden. Denn die Lebenswirklichkeit zeigt, dass man diametral entgegenstehende Positionen nicht kampflos hinnimmt, sondern irgendetwas erwidert (vgl. Geipel, a.a.O., Kap. 26 Rn. 246).
Aussageanalytisch interessant wäre also, ob und wie das Justizministerium die Reaktion Ranges geschildert hat. Ebenso wäre interessant, was die Staatssekretärin stattdessen gesagt haben will. Bisher scheint es, dass nur eine Begründung vorliegt, warum die Aussage Ranges ("es geht um Ihren Kopf") nicht stimmen soll – das sei nicht ihre Diktion (vgl. zum Begr...