Der Kläger des oben unter III. referierten Urteils zum Unfallversicherungsrecht hatte wegen seines Anliegens nach Ablehnung der begehrten Anerkennung des Arbeitsunfalls in der Vergangenheit bereits zweimal vergeblich die Gerichte bemüht. Seine Klagen bzw. Rechtsmittel wurden rechtskräftig beschieden. Es handelte sich vorliegend um seinen dritten Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X. Diese im Sozialrecht für die Leistungsberechtigten und ihre Vertreter wichtige Norm (die weiter geht als z.B. §§ 48, 51 VwVfG) räumt im Rahmen ihrer Ausprägung der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit Vorrang gegenüber der Bindungswirkung von belastenden Bescheiden ein.
Nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein (i.S.d. § 45 Abs. 1 SGB X) nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit (mit der zeitlichen Begrenzung nach Abs. 4 der Vorschrift) zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass (anfänglich) bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und insoweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht (oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden) sind.
Das BSG bestätigt seine bisherige Rechtsprechung, wonach § 44 SGB X die Bindungswirkung bestandskräftiger Verwaltungsakte durchbricht und einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts auch dann vermittelt, wenn dieser bereits durch ein rechtskräftiges Urteil (s. § 77 SGG) bestätigt wurde. Gleiches gilt, wenn der rechtswidrige Verwaltungsakt auf einem gerichtlichen Vergleich beruht (s. etwa Steinwedel, Kasseler Kommentar, § 44 SGB X Rn 7 m.w.N.). Auch bei wiederholten, bisher erfolglos gestellten, Anträgen sind Leistungsträger nach § 44 Abs. 1 SGB X verpflichtet, über die Rücknahme der Verwaltungsakte, die der Gewährung der beanspruchten Sozialleistungen entgegenstehen, zu entscheiden.
Ferner steht, so das BSG, der Rücknahmepflicht hier nicht entgegen, dass der Verwaltungsakt über die Nichtanerkennung des Arbeitsunfalls aus dem Jahre 2005 bei seinem Erlass sowohl mit einer damals weitverbreiteten Rechtsauffassung als auch mit der vormaligen Rechtsprechung des Senats übereinstimmte. Für die Frage, ob ein Verwaltungsakt wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit zurückzunehmen ist, kommt es allein auf den Überprüfungszeitraum an, sodass der rechtlichen Beurteilung eine eventuell geläuterte Rechtsauffassung zugrunde zu legen ist, die von der Rechtsansicht abweichen kann, die bei Erlass des zu überprüfenden Verwaltungsakts herrschend war.
Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht Dr. Ulrich Sartorius, Breisach, und Prof. Dr. Jürgen Winkler, Katholische Hochschule Freiburg
ZAP F. 18, S. 1021–1036