Einziges Entscheidungsorgan für Beschwerden – in Form der Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK) oder als Individualbeschwerde, auf die nachfolgend allein eingegangen wird (Art. 34 EMRK) – ist der EGMR mit Sitz in Straßburg. Es handelt sich hierbei um einen ständigen Gerichtshof (Art. 19 S. 2 EMRK), den jeder Vertragsstaat mit je einem Richter beschickt (Art. 20 EMRK). Für das Verfahren vor dem Gericht gilt die Verfahrensordnung in der Fassung v. 14.11.2016. Der internationale Menschenrechtsschutz ist subsidiär ausgestaltet. Nach Art. 35 Abs. 1 EMRK kann der Gerichtshof grds. erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe (einschl. Verfassungsbeschwerde) tätig werden und nur innerhalb einer Frist von vier Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung, ggf. nach Erhebung der Anhörungsrüge. Eine Verkürzung der Frist von früher sechs auf vier Monate ist durch Art. 4 des 15. ZP zum 1.8.2021 erfolgt, nicht aber für Beschwerden, bei denen die endgültige Entscheidung i.S.v. Art. 35 Abs. 1 EMRK vor diesem Inkrafttreten von Abs. 4 des 15. ZP ergangen ist.
Rechtsbehelfe, die allerdings keine Erfolgsaussicht haben und aussichtslos sind, brauchen nicht eingelegt zu werden (Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 35, Rn 15). Bei überlanger Verfahrensdauer greift vorrangig die Verzögerungsrüge und der hierauf gestützte etwaige Schadensersatzanspruch ein (§ 198 Abs. 3 und Abs. 2 GVG).
Eine Beschwerde nach Art. 34 EMRK kann nur einlegen, wer behaupten kann, in einem der in der Konvention anerkannten Rechte verletzt zu sein, was voraussetzt, dass der Beschwerdeführer unmittelbar von der umstrittenen Maßnahme oder Unterlassung betroffen ist („direktes Opfer”). Erben oder nahe Angehörige des direkten Opfers können unter bestimmten Voraussetzungen eine noch von diesem eingelegte Beschwerde weiterverfolgen, u.U. aber auch nach seinem Tod (oder Verschwinden) als „indirektes Opfer” Beschwerde erstmals einlegen (s. näher EGMR, Urt. v. 17.7.2014 – 47848/08, NJW 2015,2635 m. Anm. Meyer-Ladewig/Petzold).
Bei Beschwerden nach Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, s.u.) räumt der EGMR Erben oder nahen Angehörigen weitergehende Befugnisse zur Beschwerdeerhebung ein (EGMR, Urt. v. 15.10.2020 – 40495/15, 40913/15, NJW 2021, 3515 m. Anm. Hoven, a.a.O., S. 3524).
Das Recht, nach Art. 34 EMRK vorzugehen, besteht nicht nur gegenüber Handlungen der Mitgliedsstaaten, sondern wegen des nach Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehenen Beitritts der Union zur EMRK auch gegenüber Handlungen der Unionsbehörden. Die Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK steht den in Art. 1 so erwähnten „allen Personen” zu: Natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen. Zu Letzteren gehören die juristischen Personen des Privatrechts, wie z.B. nach deutschem Recht eine AG und GmbH. Entscheidend ist, ob die in der Konvention und durch die derzeit 16 Zusatzprotokollen (ZP) gewährten Rechte verletzt sind.
Die Konvention und die ZP enthalten vorrangig Abwehrrechte.
Beispiele:
- Schutz des Lebens (Art. 2 EMRK), der die Pflicht des Konventionalstaats einschließt, sicherzustellen, dass Personen das für den Lebensunterhalt absolut Notwendige zur Verfügung steht (Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, a.a.O., Art. 2 Rn 11);
- das Verbot der Todesstrafe (Art. 1, 6. ZP);
- Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 4), Ausbeutung einer 15-jährigen Afrikanerin als Haushaltshilfe in Frankreich (EGMR, Urt. v. 26.7.2005 – 73316/01 – NJW 2007, 41);
- Garantie von Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK);
- Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK), z.B. Ausschluss aus der Anwaltschaft wegen kritischer Äußerungen an der Justiz (EGMR, Urt. v. 25.6.2020 – 81024/12, 28198/15, NJW 2021,139); Durchsuchung der Wohnungen u. Kanzleien von Rechtsanwälten und Beschlagnahme/Einbehalt von Gegenständen (EGMR, Urt. v. 4.2.2020 – 11264/04 u.a., NJW 2021,1077);
- Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK);
- Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK), s. etwa Entzug einer Akkreditierung eines Journalisten für das Parlament (EGMR, Urt. v. 26.5.2020 – 63164/16, Mandli u.a./Ungarn, NJW 2021, 451) und Durchführung eines Disziplinarverfahrens gegen einen Richter in Polen (EGMR, Urt. v. 15.10.2020, 965/12, NJW 2021, 3713);
- Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK);
- Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK), das z.B. verletzt sein kann, wenn Leistungen in einer Notlage aufgrund der Nationalität des Hilfebedürftigen verweigert werden (EGMR 10.9.2020, G.L./Italien, Beschwerde Nr. 59751/15, www.reha-recht.de/infothek 2.11.2020);
- Eigentumsschutz (Art. 1, 1. ZP) erstreckt sich auf alle Sozialleistungen, ohne dass hierfür die Errichtung eigener Beiträge Voraussetzung ist (EGMR, Urt. v. 10.2.2015 – 53080/13, wo es um den Schutz vor dem Wegfall einer Invaliditätsrente ging, m. Anm. Lörcher ZESAR 2015, 265). Bemerkenswert ist hierbei, dass der Gerichtshof sozialrechtliche Rechtsansprüche der Eigentumsgarantie unterstellt, wobei der...