1. Anspruchsgrundlagen
Arbeitgeber sind entsprechend der BAG-Rechtsprechung nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen, für die der Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 der RL 2003/88/EG eine von den Vorgaben in Art. 3, 5 und 6 Buchst. b dieser RL abweichende Regelung getroffen hat (BAG, Urt. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, a.a.O.).
Der Erste Senat des BAG leitet diese Pflicht des Arbeitgebers nicht aus dem ArbZG, sondern aus der unionskonformen Auslegung (vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C-55/18, a.a.O., Rn 69 f.,) von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ab (krit. zum kreativen Umgang des BAG mit der unionsrechtskonformen Auslegung des deutschen Arbeitszeitrechts H. Hanau, RdA 2023, 115; Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1). Danach muss der Arbeitgeber „für eine geeignete Organisation (...) sorgen und die erforderlichen Mittel (bereitstellen)”, um die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen.
Kritischen Lesern mutet es sonderbar an, dass das BAG – in Ansehung des EuGH-Urteils i.S. CCOO – eine Generalklausel außerhalb des ArbZG bemüht, um eine im Kern sehr konkrete und die Arbeitgeber sehr belastende Pflicht zu begründen (vgl. Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1; Benkert, NJW-Spezial 2023, 50). Wohlwollender formuliert muss man mit Blick auf die einschlägigen Entscheidungsgründe des Ersten Senats (vgl. BAG, Urt. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, a.a.O., Rn 48–50) von einem höchst kreativen Kunstgriff sprechen, was bereits am Einleitungssatz des Ersten Senats deutlich wird, wenn apodiktisch formuliert wird:
Zitat
„Gesetzessystematische Erwägungen zwingen nicht zu der Annahme, dass eine solche unionsrechtskonforme Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG "contra legem" wäre.
Auf den Punkt gebracht, bewegen sich die Entscheidungsgründe an dieser Stelle auch mit Fokus auf die eher „dünne” Begründung auf dem sehr schmalen Grat zwischen unionskonformer Auslegung und (verfassungs-)rechtlich bedenklicher richterlicher Rechtsfortbildung/-schöpfung (vgl. zur unions-/verfassungskonformen Auslegung Höpfner, RdA 2018, 321; Bayreuther, NZA 2018, 905 und zur Rechtsfortbildung durch das BAG Linsenmaier, RdA 2019, 157). Dabei darf auch nicht aus dem Blick geraten, dass die in Bezug genommenen, betagten europäischen RL aus den Jahren 2003 und 1989 stammen und bis zum Jahr 2019 niemand auf die Idee gekommen ist, im Wege einer unionskonformen Auslegung aus ihnen die Pflicht des Arbeitsgebers zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit der von ihm beschäftigten Arbeitnehmer abzuleiten (vgl. Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1, 3).
2. Objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der Arbeitszeit
Der EuGH spricht von der Einrichtung eines Systems, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, um die tatsächliche Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit sowie der täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten sicherzustellen. Ohne ein solches System kann weder die Zahl der vom Arbeitnehmer tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sowie ihre zeitliche Lage noch die über die gewöhnliche Arbeitszeit hinausgehende, als Überstunden geleistete Arbeitszeit objektiv und verlässlich ermittelt werden. Um die praktische Wirksamkeit der von der RL 2003/88/EG vorgesehenen Rechte und des in Art. 31 Abs. 2 GRCh verankerten Grundrechts zu gewährleisten, müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber daher verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann (vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C-55/18, a.a.O., krit. Höpfner/Daum, RdA 2019, 270, 271 ff.).
3. Was muss erfasst werden?
Die Frage, was vom Arbeitgeber in Bezug auf die Arbeitszeit zu erfassen ist, beschreibt der Erste Senat des BAG mit Blick auf die richtungsweisende EuGH-Entscheidung in Sachen CCOO (a.a.O.) wie folgt:
Zitat
„Das geforderte System darf sich – trotz des vom Gerichtshof verwendeten Begriffs der „Messung” – dabei nicht darauf beschränken, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit (einschließlich der Überstunden) lediglich zu erheben. Diese Daten müssen vielmehr auch erfasst und damit aufgezeichnet werden (a.A. H. Hanau, ZFA 2020, 129, 133). Anderenfalls wären weder die Lage der täglichen Arbeitszeit noch die Einhaltung der täglichen und der wöchentlichen Höchstarbeitszeiten innerhalb des Bezugszeitraums überprüfbar (vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C-55/18 – [CCOO] Rn 47, 49). Auch eine Kontrolle durch die zuständigen Behörden wäre sonst nicht gewährleistet (vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C-55/18 – [CCOO] Rn 57). Die Pflicht zur Einführung beschränkt sich zudem nicht darauf, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmern ein solches System zur freigestellten Nutzung zur Verfügung stellt (a.A. wohl Thüsing/Flink/Jänsch, ZFA 2019, 456, 468 ff.). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss er hiervon auch tatsächlich Gebrauch machen (vgl. EuGH 14.5.2019 – C-55/18 – [CCOO] Rn 50) und es damit verwenden (ebenso Bayreuther, NZA 2020, 1, 7; Rieble/Vielmeier, Gutachten zur Umsetzung des EuGH-Urteil...